Gedanken zu den neuen Erkenntnissen vom 18.11.2022

Am 18.11.2022 erreichten uns drei Artikel aus der überregionalen Presse mit neuen Erkenntnissen zum Mord an Mouhamed Lamine Dramé. Wir haben direkt danach unsere Gedanken dazu in diesem Text aufgeschrieben, im Eindruck des Schocks über immer neue haarsträubende Details, der Trauer über den Verlust eines so jungen Menschen, der Hilfe gebraucht hätte und stattdessen tödliche Gewalt erfuhr, der Wut über einen mordenden Polizeiapparat mit kaum reformierbaren, rassistischen Strukturen, und der Spannung und Ungewissheit vor der Demonstration am Tag danach. Der resultierende, in Strecken emotionale Text liest sich anders, als andere Texte, die wir in Momenten größerer Ausgeglichenheit verfasst haben. Dennoch möchten wir ihn euch nicht vorenthalten, und stellen ihn, nachdem wir ihn jetzt, ein paar Tage später behutsam überarbeitet haben, zur Verfügung.

Die Artikel, um die es geht, sind die folgenden:

https://www.spiegel.de/panorama/justiz/dortmund-so-schildert-ein-augenzeuge-den-toedlichen-polizeieinsatz-last-man-standing-a-663c7d96-1272-45c9-959a-c588002ffe69 (Bezahlschranke)

https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/polizei-psychose-tod-dortmund-amsterdam-e311083/ (Bezahlschranke)

https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/neue-erkenntnisse-mouhamed-nicht-gewarnt-100.html

Stellungnahme des Solidaritätskreis Mouhamed zu den Berichten des SPIEGEL, WDR und SZ vom 18.11.2022

Einen Tag vor der von uns veranstalteten Demonstration und mitten in den Vorbereitungen zu dieser, wurden wir von gleich drei Pressertikeln überrascht. Ihnen zu entnehmen sind „neue Erkenntnisse“ rund um den Polizeieinsatz, der Mouhamed Lamine Dramé am 08.08.2022 das Leben kostete. Manche der Erkenntnisse sind für mit dem Fall Vertraute gar nicht mal so neu – was neu ist, ist jedoch die Klarheit, die diese Veröffentlichungen nun endlich auch in der (medialen) Öffentlichkeit bringen. 

Um es direkt laut und deutlich zu sagen: MOUHAMED, DAS WAR MORD! Und spätestens jetzt sollten wir dies auch ebenso benennen!

Wir möchten an dieser Stelle Position zu den Presseartikeln beziehen, die für uns erneut zeigen, wie wichtig es ist, den Druck aufrecht zu erhalten und eine Öffentlichkeit herzustellen, damit den Behörden gar nichts anderes bleibt, als dieses mal gründlich zu ermitteln. Darum war es so wichtig, um Mouhamed und all die anderen Opfer von Polizeigewalt trauernd und dennoch wütend durch die Straßen Dortmunds zu ziehen.  

Nun, nach dem Lesen der Artikel, muss allen klar sein, dass die Polizei Dortmund am 08.08.2022 einen Einsatz zu verantworten hat, der vollkommen rechtswidrig, unmenschlich vor allem mörderischmit der Erschießung Mouhameds endete. Das ist nicht tragisch, das ist nicht bedauernswert – das ist skandalös! Wir erneuern unsere Forderung nach einer lückenlosen Aufklärung, die wir bereits seit August kritisch begleiten. 

Die drei Presseartikel dokumentieren den aktuellen Ermittlungsstand: Demnach ging von Mouhamed zu keinem Zeitpunkt eine Bedrohung aus. Vielmehr macht der Artikel des Spiegel deutlich, dass es sich um die planmäßige Durchführung eines vierstufigen Einsatzplanes handelte, dessen Dramaturgie den folgenden Einsatz in direkter Abfolge vorgab: Ansprache (auf Sprachen die er nicht sprach) – Pfefferspray – Tasereinsatz – Erschießung. Dass zwischen Tasereinsatz und Schussabgabe nur 0,7 Sekunden lagen, wissen wir bereits seit einiger Zeit – laut WDR verstrichen nur wenige Minuten zwischen ersten Versuchen einer Kontaktaufnahme und der Erschießung. Er wurde nicht gewarnt, es gab keine Warnschüsse. Als er sich von fünf Schüssen getroffen am Boden krümmte, wurden ihm noch Handschellen angelegt, die erst gelöst wurden als Notfallsanitäter den Ort des Geschehens betraten. All das macht fassungslos, all das macht wütend!

Wir sind in engem Kontakt und Austausch mit Mouhameds Familie im Senegal. Sie müssen, tausende Kilometer entfernt vom Todesort ihres Familienmitglieds nicht nur seinen Tod betrauern und verarbeiten, sondern sich darauf verlassen können, dass die Umstände seines Todes nicht nur aufgeklärt werden, sondern Konsequenzen nach sich ziehen. Dem fühlen wir uns seit Beginn unserer Arbeit als Solikreis verpflichtet und rufen jede*n dazu auf uns dabei weiter zu unterstützen! Völlig auf sich allein gestellt sowie grund- und chancenlos ist ihr Sohn, Bruder, Freund erschossen worden – nun ist es an uns, ein größtmögliches Zeichen in den Senegal zu senden, dass wenigstens Mouhameds Name und die Umstände seines Todes hier in Dortmund weiter Beachtung finden. 

Bereits wenige Tage nach dem Tod Mouhameds trugen wir erst offene Fragen, dann Forderungen, auf die Straße und in die Dortmunder Stadtgesellschaft. Während einige der Fragen zum Einsatzgeschehen nun sehr klare Beantwortung finden, werden unsere Forderungen mit jeder herauskommenden Einzelheit drängender:

Wir fordern tatsächliche und deutliche Konsequenzen, die über die strafrechtlichen Ermittlungen, die nun in den Händen der Staatsanwaltschaft Dortmund liegen, hinausgehen. 

Für uns ist der ‚Fall Mouhamed‘ eben alles, nur kein Einzelfall. 

Die nun veröffentlichten Einzelheiten zum Tathergang im Innenhof der Jugendeinrichtung zeichnen zwar das Bild eines desaströsen Polizeieinsatzes – sind jedoch bei etwas weiterer Betrachtung nur Symptome tieferliegender, systemischer Probleme.

Nicht nur einzelne Beamt*innen haben hier das Leben Mouhameds auf dem Gewissen, sondern eine repressive und rassistische Einsatzlogik der Polizei – die exemplarisch für viele andere Orte in der Dortmunder Nordstadt zu beobachten ist. 

Seitens der Polizei herrscht in der Dortmunder Nordstadt ein enormes Gewaltpotential und der eiserne Wille, dieses zum Einsatz zu bringen. Neben der unmittelbaren und grundlosen Gewaltlogik seitens der Polizei zeigt Mouhameds Tod, wie strukturell falsch eine immer hochgerüstetere Polizei in Einsätze geht. Die Dortmunder Nordstadt entwickelte sich dabei zum Experimentierfeld verschiedenster Repressionsstrategien: Anlasslose „Schwerpunktkontrollen“, wöchentliche Razzien durch Hundertschaften; Zivilkräfte, die außerhalb jeder Rechenschaft regelrecht Jagd auf Menschen machen; eine ‚Blackbox Wache Nord‘, in deren Gewahrsamszellen Menschen misshandelt werden, der Einsatz von Elektro-Tasern; Maschinenpistolen in Einsatzfahrzeugen, die Beamt*innen ernsthaft zum Einsatz bringen – diese Liste ließe sich noch fortführen. 

Nicht zuletzt zeigen die nun veröffentlichten Einsatzdatails, wie inädequat eine auf repressiv-rassistisches Vorgehen gedrillte Polizei mit Menschen in (psychischen) Krisen umgehen kann. Mouhamed hätte Hilfe gebraucht, keine Polizei, die sich mit Pfefferspay, Tasern und (Maschinen)Pistolen vor ihm aufbaut. Nochmals in aller Klarheit, wie es nun auch den Presseberichten zu entnehmen ist und bereits in unserem Demo-Aufruf steht: Von Mouhamed ging zu keiner Sekunde irgendeine (Fremd)Gefahr aus, eskaliert hat hier einzig und allein die Polizei!

Er könnte, er müsste noch leben! Er würde wohl auch noch leben, wenn dieser Polizeieinsatz in einem anderen Dortmunder Stadtteil stattgefunden hätte – vor allem aber: Wenn Mouhamed weiße Haut gehabt hätte. Das Mordmotiv: Rassimus! Ein solch planmäßiges Vorgehen, wie es in den Artikel des Spiegels und der SZ detailliert nachgezeichnet wird, kann nur mit Rassismus erklärt werden: Denn die Vorstellung einer Bedrohungslage befand sich bereits in den Köpfen der Beamt*innen, ehe sie dem Hinterhof der Jugendhilfeeinrichtung nur Nahe kamen. Ehe sie überhaupt wussten was für ein Mensch Mouhamed war und was mit ihm los war. Sie wollten es nicht wissen, sie wollten (be)herrschen, wie es ein kolonialistisch geprägtes Polizeisystem schon lange tut. 

Und hier ist uns noch etwas sehr wichtig zu betonen: Zwar erhalten die Umstände von Mouhameds Erschießung mittlerweile bundesweite Aufmerksamkeit, es gibt jedoch tausende Mouhameds – weshalb wir unsere Demonstration auch unter eben dieses Motto gestellt haben. Viele von ihnen sind gar namenlos und verstecken sich hinter dem Kürzel „N.N“ in Statistiken die Recherchenetzwerke wie „Death in custody“ zu tödlichen Polizeieinsätzen führen – offizielle Statistiken gibt es erst gar nicht.

Ein überwiegender Teil der Opfer tödlicher Polizeieinsätze sind People of Colour, Wohnungslose, Menschen in psychischen Ausnahmesituationen – Menschen die von der Mehrheitsgesellschaft an den Rand gedrängt werden. Kaum jemand spricht über sie und die Umstände ihrer Tode, sie haben schlicht keine Lobby. Deshalb ist es uns auch wichtig, über den Tod Mouhameds hinaus das Thema tödlicher Polizeigewalt zu adressieren. Wir haben uns sehr darüber gefraut, dass wir bei der Demonstration Angehörige sowie zahlreiche Initiativen aus ganz Deutschland begrüßen durften, mit denen wir uns im Kampf gegen tödliche Polizeigewalt verbündet haben.

Denn: Was hier in Dortmund sowie in der Medienöffentlichkeit geschieht, ist alles andere als ‚normal‘. In der Regel verschwinden Fälle wie der Mouhameds schnell aus den Schlagzeilen – wenn sie es überhaupt dorthin geschafft hatten. Viele der Opfer werden gar durch die polizeiliche Deutungshoheit posthum kriminalisiert. Wir erinnern daran: Auch unmittelbar nach Mouhameds Tod wurde dies seitens der Polizei Dortmund versucht. Kurz nach den Schüssen auf Mouhamed twitterte die Polizei: „Es kam zu einem Schusswaffengebrauch durch Polizeibeamte. Es bestand zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für die Öffentlichkeit.[…] Im Laufe des Einsatzes griff ein 16-jähriger junger Mann die Polizisten mit einem Messer an.“ Wie wir wissen: Falsch, doppelt falsch! Nicht nur, dass Mouhaed von den Polizist*innen angegriffen wurde und nicht umgekehrt – es bestand und besteht eine massive Gefahr für die Öffentlichkeit, durch die Polizei selbst.

Auch Innenminister Herbert Reul sprang in seiner Funktion als oberster Dienstherr beflissentlich vorerst in die Bresche. Wie wir heute wissen scheinbar ohne jegliche Faktenkenntnis behauptete er dreist: „Derjenige ist immer aufgeregter, ich sag mal angespannter, aggressiver auf die Polizisten zu gerannt. Und in dieser Situation ging es um die Frage: Sticht der zu – oder schießt die Polizei?“ Auch festzuhalten ist, dass zu Beginn dieses Framing von vielen Medien vollkommen unkritisch übernommen wurde.

Ein weiteres Detail dass zeigt, wie emsig und schnell die Polizei Dortmund an ihrer Version der Tat zu basteln versuchte: Noch während im Schockraum des Klinikums Nord um Mouhameds Leben gekämpfte wurde, setzten Polizist*innen in der Wache Nord eine Anzeige wegen Bedrohung gegen ihn auf.

Als Polizeipräsident Gregor Lange im Rahmen des ‚WDR5 – Stadtgesprächs‘ einige Tage nach dem Mord zahlreiche Schilderungen rassistischer und eskalativer Polizeieinsätze seiner Beamt*innen vorgehalten wurden, erdreistete er sich noch, die Betroffenenperspektiven als „nicht repräsentativ für die Dortunder Stadtgesellschaft“ zu diffamieren. Gleichzeitig wissen wir bereits, dass alle an der Erschießung Mouhameds beteiligten Beamt*innen kurz nach der Tat in einem persönlichem Gespräch mit Polizeipräsident Lange beisammen saßen – juristisch nennt man dies Zeug*innenabsprachen und Verdunklungsgefahr. 

Nur durch die schnell einsetzende öffentliche Aufmerksamkeit in Form von Demonstrationen, durch all die Gespräche die sich in der Dortmunder Nordstadt unter den Bewohner*innen entwickelten sowie durch die Hinzuziehung einer Nebenklagevertreterin durch Mouhameds Familie ist es gelungen diesen Fall davor zu schützen, in die Mühlen des polizeilichen Deutungskartells zu geraten. Deshalb ist auch für uns klar: Es kann und darf hier nicht nur um juristische Konsequenzen der eingesetzten Beamt*innen gehen. Neben den systemischen, polizeilichen Logiken die zu seinem Tod führten und konsequent zu hinterfragen sind, stinkt der Fisch vom Kopfe her. Gregor Lange und Herbert Reul sind die politisch Verantwortlichen! Sie statten die Polizei mit Gerät und Legitimation für derartige Einsätze aus, stellen sich vor ‚ihre‘ Beamt*innen und versuchten massiv die Aufklärung des Falles zu behindern. Was es jetzt braucht, sollte in der Nordstadt je wieder ein bisschen Vertrauen in die Staatsmacht hergestellt werden, sind politische Konsequenzen und persönliche Übernahme der politischen Verantwortung, und wirkliche Reformen der Polizei, hin zu einer Behörde die wirklich für die Menschen da ist und den Schutz der Menschen vor Selbsterhaltung stellt.

Genug ist genug, ob in der Dortmunder Nordstadt oder sonstwo – no justice, no peace! 

Mouhamed, das war Mord – Widerstand an jedem Ort!

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