Der 6. Prozesstag in Kürze:
Im folgenden Text werden Aspekte der Tat konkret beschrieben.
- Erste Befragungen von Polizisten, zwei Angehörigen der Sondereinheit in der Nordwache, die überwiegend verdeckt/zivil in der Nordstadt eingesetzt sind. Die beiden waren am 8.8.22 zuerst am Einsatzort und sprachen Mouhamed an.
- Aussageverhalten polizeilicher Zeug*innen ist merklich anders als das bisher gehörter ziviler Zeug*innen. Während die zivilen Zeug*innen weitere empathische Perspektiven auf die Tat und teils eigene Betroffenheiten widerspiegelten, führen die Polizist*innen polizeiliches Sprechen und Denken vor.
- Beispiele: Freier Bericht zu Beginn wirkt wie auswendig gelernt, spätere Detailfragen werden hingegen teils ausweichend beantwortet – meistgenutztes Wort dabei: „Negativ.“ Auch die Kammer verhält sich – gemäß dem Dogma „polizeilicher Berufszeugen“ – Beamten gegenüber völlig anders, es gibt keine Versuche der Verunglaubwürdigung oder Verunsicherung, ungenaue Aussagen werden als Schätzfehler akzeptiert.
- In den Aussagen wird wieder deutlich: Mouhamed wirkte teilnahmslos, reagierte nicht auf Ansprache, wurde selbst von den Zivis in erster Linie als Bedrohung für sich selbst wahrgenommen.
- Weder die Zivilpolizisten noch die Uniformierten gaben sich als Beamte zu erkennen, der Einsatz von Waffen ist laut Aussagen nicht – zumal nicht in einer Mouhamed verständlichen Sprache – angedroht worden.
- Erst durch den Pfeffersprayeinsatz wurde die ruhige Lage umgehend dynamisch.
- Die sog. „7-Meter-Regel“ aus der Polizeiausbildung kommt zur Sprache: Bei Unterschreitung von 7m in einer „Messerlage“ sei die Schusswaffe „die Option“. Auch 1,5 Jahre später fallen den befragten Beamt*innen keine anderen Handlungsmöglichkeiten ein.
- Polizei unterschritt diese Regel, widerspricht sich dabei in der propagierten „Gefahrenlage“: Der Zivilpolizist Kevin S. ging bei seiner Ansprache – ähnlich wie zuvor die Mitarbeitenden der Einrichtung – auf nur etwa eineinhalb Meter Abstand zu Mouhamed in die Hocke, musste vor dem Pfeffersprayeinsatz erst aus dem Wirkungsbereich zurückbeordert werden.
- Leiter der Dienstgruppe auf der Nordwache und Einsatzleiter am 08.08.22 Thorsten H. hat ebenfalls mit seiner Dienstwaffe auf Mouhamed gezielt, während er Einsatzbefehle verteilte.
- Die Aufstellung der Polizist*innen positionierte Mouhamed in einer Sackgasse.
- Polizeiliche Einsatzlogik, die sprachlos macht: Nach den Schüssen, als sich Mouhamed unter Schmerzen auf dem Boden wand, wurde er mit Knien auf seinen Schultern fixiert und noch mit Handschellen gefesselt. Polizeilicher Fokus weiterhin: Die Suche nach dem Messer. Mouhamed wurde zu diesem Zweck sogar angehoben und mindestens einige Meter weggetragen.
- Der Zivilpolizist Max P. resümiert den Einsatz folgendermaßen: „Letztendlich wurde die Gefahr abgewehrt – keine anderen Personen kamen zu Schaden. […] Der Einsatz ist abgearbeitet worden, wie er abgearbeitet werden konnte“ – und das, wo doch seine Kolleg*innen den Jugendlichen tödlich verletzten.
- Nach dem Einsatz sei allen beteiligten Polizist*innen „unwohl“ gewesen, gesprochen hätten alle miteinander über den Vorfall – mit wem und über was, konnten oder wollten die Zeugen jedoch nicht erinnern. Nachfragen von Staatsanwaltschaft und Nebenklage thematisieren Whatsappkommunikationen untereinander, diese scheinen noch prozessrelevant werden zu können.
- Beschwerden wirken: Richter Kelm zeigt erstmals Lichtbilder auf dem Bildschirm, sodass alle Prozessbeteiligten, Presse und Zuschauer*innen das Geschehen mitverfolgen können.
Ausführlicher Bericht vom
6. Prozesstag:
Im folgenden Text werden Aspekte der Tat konkret beschrieben.
Wir waren am 28. Februar wieder mit vielen solidarischen Begleiter*innen ab 7:30 mit einer Mahnwache und in der Warteschlange vorm Eingang zum Gerichtssaal präsent.
Heute wurden die ersten beiden am Einsatz beteiligten Polizisten befragt, die beiden nicht angeklagten Zivilpolizisten der Wache Nord, die am 8. August 2022 zuerst den Einsatzort betraten. Herr P. (30 Jahre) und Herr S. (31 Jahre) arbeiten beide seit 2020 im Einsatztrupp Nord der Wache Nord, und sind hauptsächlich zu zweit in Zivil im Bereich des Nordmarkts eingesetzt und dort häufig mit Fahrrädern und Skateboard „zur Bekämpfung der örtlichen Drogenumschlagkriminalität“ vor Ort.
Umgang mit Polizeizeugen unterscheidet sich fundamental von dem mit zivilen Zeug*innen
Während beider Befragungen fällt auf: Das Aussageverhalten der Polizisten ist völlig anders als das der bisher gehörten zivilen Zeugen – der freie Bericht zu Beginn der Aussage wirkt wie auswendig gelernt, sodass selbst der Richter ihn als „strukturiert“ kommentiert und wiederholt nachgefragt wird, ob beide Zeugen ihre Erstaussagen noch einmal studiert hätten. Spätere Detailfragen wiederum werden teils ausweichend beantwortet. Auch die Kammer verhält sich – gemäß dem Dogma von „Berufszeugen“ – den Polizeizeugen gegenüber völlig anders als den zivilen Zeug*innen, es gibt keine Versuche der Verunglaubwürdigung oder Verunsicherung, ungenaue Aussagen werden als Schätzfehler akzeptiert.
Erstmals Einblick in Lichtbilder
Nach Beschwerden der Presse zeigt Richter Kelm heute erstmals Lichtbilder aus der Akte auf dem großen Bildschirm im Saal, sodass alle Prozessbeteiligten, Presse und Zuschauer*innen das Geschehen mitverfolgen können. Bilder des Tatorts werden gezeigt, auf denen beide Zeugen die Position der Personen vor Ort anzeigen, außerdem Bilder des eingesetzten RSG8 (Pfefferspray), des Distanzelektroimpulsgeräts DEIG (Taser) sowie der Maschinenpistole MP5.
Die Nebenklage fordert darüber hinaus wiederholt die Verwendung der vom LKA angefertigten 3D-Bilder, Verteidiger Brögeler schießt weiter dagegen.
Schnelle Eskalation in dynamische Situation
In den Aussagen der beiden Zeugen wird noch einmal klar: Mouhamed wirkte teilnahmslos, reagierte nicht auf Ansprachen. Auf die Frage, ob Mouhamed zum Zeitpunkt der Ansprache auf den Polizisten S. bedrohlich wirkte, antwortet dieser: „Bedrohlich für sich selbst“ – und ergänzt schnell: „und für uns, weil wir auch in der Situation waren.“
Auch bestätigen beide Zeugen, sich nicht als Beamte zu erkennen gegeben zu haben, denn sie haben „oft die Erfahrung gemacht, dass Personen nicht positiv auf die Polizei reagieren“. Es sei durch Herrn S., in zivil gekleidet, eine Ansprache in Dauer weniger Minuten auf Spanisch erfolgt.
Die Aufstellung der Polizist*innen positionierte Mouhamed in einer Sackgasse.
Der anschließende Einsatz von Zwangsmitteln durch die Beamten in Uniform ist laut beider Aussagen nicht – zumal nicht in einer Mouhamed verständlichen Sprache – angekündigt oder angedroht worden.
Erst durch den Pfeffersprayeinsatz wurde die ruhige Lage laut Aussage umgehend dynamisch. Warum in dieser Situation überhaupt Pfefferspray eingesetzt wurde, habe der Zeuge S. nicht verstanden, sich dabei aber auch nichts weiter gedacht und dies auch nicht hinterfragt.
Der Zeuge P. argumentiert, eine Dringlichkeit zu handeln habe sich aus der Selbstgefährdung von Mouhamed ergeben: „Man kann ja nicht dabei zusehen, wie sich jemand suizidiert.“ Faktoren wie die Dauer, über die Mouhamed sich schon in dieser Lage befand, oder seine Reglosigkeit über den gesamten beobachteten Zeitraum hinweg scheinen für diese Einschätzung allerdings nicht in Betracht gezogen worden zu sein.
Einsatz der Schusswaffe
Es kommt die 7-Meter-Regel aus der Polizeiausbildung zur Sprache, nach der Beamte sich „Messertätern“ nicht weiter als sieben Meter näher sollen. Unterschreite eine angreifende Person diese, sei die Schusswaffe „die Option“. Hier handelte es sich aber gar nicht um einen Messerangriff – dass keine Fremdgefährdung bestand, unterstreicht auch, dass nur wenige Minuten vor den Schüssen der Zivilpolizist S. – ähnlich wie zuvor die Mitarbeitenden der Einrichtung – auf nur etwa eineinhalb Meter Abstand zu Mouhamed in die Hocke ging.
Bei der Richtlinie gäbe es keine vorgegebene Schusszahl, es ginge um „Wirkungstreffer“. Inwiefern die fünf Schüsse hier verhältnismäßig waren, und ob statt den Schüssen auch Distanz zu Mouhamed hätte aufgebaut werden können, bleibt ungeklärt.
Nach den Schüssen sei Mouhamed nach vorn gefallen, dann noch gefesselt worden, wobei Einsatzleiter H. Mouhameds rechte Schulter mit seinem Knie fixiert haben soll. Beim Fesseln habe es „Probleme“ gegeben, da Mouhamed sich unkoordiniert bewegt hätte, was der Polizist P. als Widerstandshandlung beschreibt. Auf Rückfrage des Staatsanwalts Carsten Dombert könne es sich dabei aber auch um ein Winden vor Schmerzen gehandelt haben.
„Für uns war das Hauptproblem, dass wir zu dem Zeitpunkt das Messer noch nicht gefunden hatten.“
Sehr deutlich werden in beiden Aussagen Aspekte polizeiliche Einsatzlogik: So zeigt etwa der Umstand, dass Mouhamed, als er nach den Schüssen am Boden lag, noch gefesselt wurde, dass er auch nach den Schüssen noch als Aggressor betrachtet wurde. Mehrere Polizist*innen suchten derweil weiter nach dem Küchenmesser als „gefährlicher Tatwaffe“, völlig ungeachtet der Lage, dass der vermeintliche „Täter“ zu diesem Zeitpunkt wohl schon im Sterben lag. Herr P. hierzu: „Für uns war das Hauptproblem, dass wir zu dem Zeitpunkt das Messer noch nicht gefunden hatten.“ Mouhamed wurde zwecks Suche nach dem Messer sogar in seinen Fesseln angehoben und mindestens einige Meter weggetragen.
Der Polizist P. resümiert den Einsatz so: „Letztendlich wurde die Gefahr abgewehrt – es ist niemand mit dem Messer verletzt worden“ – nachdem seine Kolleg*innen den Jugendlichen tödlich verletzt hatten.
Nach dem Einsatz sei aber allen beteiligten Polizist*innen „unwohl“ gewesen. Gesprochen hätten alle miteinander über den Vorfall – mit wem und über was, konnten oder wollten die Zeugen jedoch nicht erinnern. Nachfragen von Staatsanwaltschaft und Nebenklage thematisieren Whatsapp-Kommunikation untereinander, diese scheinen noch prozessrelevant werden zu können.
Auch ein Gespräch zwischen Polizeipräsident Gregor Lange, allen am Einsatz Beteiligten und scheinbar weiteren Mitarbeitenden der Wache Nord wenige Tage nach der Tat wird thematisiert. In diesem sei es laut Zeugen nur um die Zusicherung „allgemeiner Unterstützung“ gegangen, an weiteres können sie sich nicht erinnern.
Es geht weiter nächsten Mittwoch, den 6. März, ab 7:30 mit einer Mahnwache vor der Kaiserstraße 34 und um 9:30 mit dem Prozess (Eingang Hamburger Straße 11).