Radio Nordpol – Beitrag zum 9. Prozesstag

Zum 9. Verhandlungstag hat das Radio Nordpol mit der Anwältin der Nebenklage Lisa Grüter, Britta Rabe vom Grundrechtekomitee und dem Solidaritätskreis Justice4Mouhamed gesprochen. Darüber hinaus geht es um die aktuelle Statistik von TOPA. Wir schauen polizeikritisch auf den Umgang der Cops mit Menschen in psychischen und psychosozialen Krisen und wie Alternativen zum Polizeinotruf aussehen können.

Hier klicken, um den Inhalt von radio.nrdpl.org anzuzeigen

Danke an das Radio Nordpol Team!

Bericht vom 9. Prozesstag – 20.03.2024

  1. Prozesstag in Kürze:
  • Vernehmung des letzten beteiligten Polizeizeugens: Christon S. (33) gehörte zur Vierergruppe der Zivilbeamten vor Ort. – Seine Aussage ähnelt inhaltlich allen bisher gehörten Polizeiaussagen. Laut ihm habe es vor dem Einsatz des Pfeffersprays eine Diskussion zwischen der Angeklagten Pia B. und Einsatzleiter Thorsten H. über einen möglichen Einsatz des Tasers gegeben. Daraufhin soll H. die Anordnung das RSG 8 (Pfefferspray) einzusetzen gegeben haben. Auch S. beschreibt die ruhige Auffindesituation Mouhameds, dieser sei „wie gefangen in Gedanken“ gewesen.

  • Wie andere zuvor schildert der Zeuge, sein Kollege Kevin S.F. habe sich „viel zu nah“ an Mouhamed heranbegeben. Man sei jedoch „in erster Instanz nicht davon ausgegangen, dass er uns was wollte“. Da Mouhamed auf ihre Anrufungen nicht reagierte sei die Situation immer bedrohlicher geworden, es sei darum gegangen, „die Maßnahme durchzuziehen“, aus polizeilicher Sicht sei „eine Person mit Messer eine Bedrohung an sich“.
  • S. gibt an, dass aus seiner Erfahrung mit „Messertätern“ der Einsatz von Pfefferspray sinnvoll sei, um eine Selbstverletzung der Person zu verhindern und gleichzeitig eine „Entwaffnung“ erzielen zu können. Damit begründet und legitimiert er auch 1,5 Jahre später noch den Einsatz des Pfeffersprays als „mildestes Mittel“.

  • Der Polizeisprech im Gerichtssaal hinterlässt Fragezeichen: Mehrfach spricht Christon S. davon, Mouhamed sei bei der Erstversorgung „wehrig“ gewesen – gleich zweimal beschreibt er seinen Todeskampf als „Gas geben im RTW“. Richter Kelm greift dies auf, beschreibt Mouhamed gar als „renitent“. Auf Nachfrage ergänzt der Zeuge, dass er „überrascht“ war später von Mouhameds Tod zu erfahren, habe sich dieser doch im RTW und Schockraum noch „agil“ verhalten.

  • Verteidiger Brögeler gibt nach der Befragung eine Prozesserklärung ab und offenbart damit eine mögliche Verteidigungsstrategie: In der Anklageschrift werde von einer statischen Lage gesprochen, die hätte gehalten werden können. Man müsse jedoch mal die „Perspektive wechseln“, Zu Beginn sei es eine solche gewesen, doch hätte diese jederzeit kippen können. Nicht wegen eines Angriffs Mouhameds, sondern dadurch, „dass er sich das Messer in den Bauch rammen könnte“. Das hätte zur Ungewissheit bei den Beamten geführt, ob die statische Lage in eine dynamische umkippt – schließlich wären die Beamt*innen auch verpflichtet gewesen, Mouhamed „helfen zu müssen“.

  • Die Verteidiger von Thorsten H. und Markus B. geben an, am 17.04. eine Einlassung (Stellungnahme der Angeklagten) abzugeben. Die Verteidigung des Schützen Fabian S. will diese abwarten und daraufhin entscheiden, ob sie sich auch äußern wollen.

    Am Mittwoch, den 03. April, geht es ab 9:30 Uhr weiter mit der Befragung der RTW Sanitäter*innen. Wir freuen uns über solidarische Prozessbeobachter*innen (Eingang Hamburger Straße 11) sowie Teilnahme an unserer Mahnwache ab 7:30 vor dem Gericht (Kaiserstraße 34).

Bericht vom 6. Prozesstag – 28.02.2024

Der 6. Prozesstag in Kürze:

Im folgenden Text werden Aspekte der Tat konkret beschrieben.

  • Erste Befragungen von Polizisten, zwei Angehörigen der Sondereinheit in der Nordwache, die überwiegend verdeckt/zivil in der Nordstadt eingesetzt sind. Die beiden waren am 8.8.22 zuerst am Einsatzort und sprachen Mouhamed an.
  • Aussageverhalten polizeilicher Zeug*innen ist merklich anders als das bisher gehörter ziviler Zeug*innen. Während die zivilen Zeug*innen weitere empathische Perspektiven auf die Tat und teils eigene Betroffenheiten widerspiegelten, führen die Polizist*innen polizeiliches Sprechen und Denken vor.
  • Beispiele: Freier Bericht zu Beginn wirkt wie auswendig gelernt, spätere Detailfragen werden hingegen teils ausweichend beantwortet – meistgenutztes Wort dabei: „Negativ.“ Auch die Kammer verhält sich – gemäß dem Dogma „polizeilicher Berufszeugen“ – Beamten gegenüber völlig anders, es gibt keine Versuche der Verunglaubwürdigung oder Verunsicherung, ungenaue Aussagen werden als Schätzfehler akzeptiert.
  • In den Aussagen wird wieder deutlich: Mouhamed wirkte teilnahmslos, reagierte nicht auf Ansprache, wurde selbst von den Zivis in erster Linie als Bedrohung für sich selbst wahrgenommen.
  • Weder die Zivilpolizisten noch die Uniformierten gaben sich als Beamte zu erkennen, der Einsatz von Waffen ist laut Aussagen nicht – zumal nicht in einer Mouhamed verständlichen Sprache – angedroht worden.
  • Erst durch den Pfeffersprayeinsatz wurde die ruhige Lage umgehend dynamisch.
  • Die sog. „7-Meter-Regel“ aus der Polizeiausbildung kommt zur Sprache: Bei Unterschreitung von 7m in einer „Messerlage“ sei die Schusswaffe „die Option“. Auch 1,5 Jahre später fallen den befragten Beamt*innen keine anderen Handlungsmöglichkeiten ein.
  • Polizei unterschritt diese Regel, widerspricht sich dabei in der propagierten „Gefahrenlage“: Der Zivilpolizist Kevin S. ging bei seiner Ansprache – ähnlich wie zuvor die Mitarbeitenden der Einrichtung – auf nur etwa eineinhalb Meter Abstand zu Mouhamed in die Hocke, musste vor dem Pfeffersprayeinsatz erst aus dem Wirkungsbereich zurückbeordert werden.
  • Leiter der Dienstgruppe auf der Nordwache und Einsatzleiter am 08.08.22 Thorsten H. hat ebenfalls mit seiner Dienstwaffe auf Mouhamed gezielt, während er Einsatzbefehle verteilte.
  • Die Aufstellung der Polizist*innen positionierte Mouhamed in einer Sackgasse.
  • Polizeiliche Einsatzlogik, die sprachlos macht: Nach den Schüssen, als sich Mouhamed unter Schmerzen auf dem Boden wand, wurde er mit Knien auf seinen Schultern fixiert und noch mit Handschellen gefesselt. Polizeilicher Fokus weiterhin: Die Suche nach dem Messer. Mouhamed wurde zu diesem Zweck sogar angehoben und mindestens einige Meter weggetragen.
  • Der Zivilpolizist Max P. resümiert den Einsatz folgendermaßen: „Letztendlich wurde die Gefahr abgewehrt – keine anderen Personen kamen zu Schaden. […] Der Einsatz ist abgearbeitet worden, wie er abgearbeitet werden konnte“ – und das, wo doch seine Kolleg*innen den Jugendlichen tödlich verletzten.
  • Nach dem Einsatz sei allen beteiligten Polizist*innen „unwohl“ gewesen, gesprochen hätten alle miteinander über den Vorfall – mit wem und über was, konnten oder wollten die Zeugen jedoch nicht erinnern. Nachfragen von Staatsanwaltschaft und Nebenklage thematisieren Whatsappkommunikationen untereinander, diese scheinen noch prozessrelevant werden zu können.
  • Beschwerden wirken: Richter Kelm zeigt erstmals Lichtbilder auf dem Bildschirm, sodass alle Prozessbeteiligten, Presse und Zuschauer*innen das Geschehen mitverfolgen können.

Es geht weiter nächsten Mittwoch, 6. März um 9:30 im Saal 130 des Landgericht Dortmunds (Eingang Hamburger Straße 11). Gehört werden sollen dann weitere am Einsatz beteiligte Polizist*innen.

Kommt hin!

Radio Nordpol – Beitrag zum 6. Prozesstag

In dem Beitrag zum sechsten Prozesstag (28.02) hat das Radio Nordpol mit
der Anwältin der Nebenklage Lisa Grüter, zwei Vertreter*innen von Backup,
Alex vom Solidaritätskreis Justice4Mouhamed und dem freien Journalisten Frido
über den Prozess gesprochen. Außerdem wurde mit William Dountio vom Solidaritätskreis Justice4Mouhamed über die Wahrnehmung des Prozesses für die Brüder Sidy und Lassana Dramé und überhaupt für Schwarze Menschen gesprochen.

Hier klicken, um den Inhalt von radio.nrdpl.org anzuzeigen

Bericht vom 5. Prozesstag – 21.02.2024

Der fünfte Prozesstag in Kürze:

Hinweis zum Inhalt: In diesem Text werden Aspekte der Tat beschrieben.

  • 4 Zeug*innen aus der Jugendhilfeeinrichtung werden (weiter) befragt.
  • Die Mitarbeiterin Frau A. beschreibt, dass Mouhamed sich während der Ansprache durch die Mitarbeitenden etwas entspannt habe und das an den Oberkörper gehaltene Messer senkte. Die spätere Ansprache der Polizei beschreibt sie als zu kurz.
  • Der Zeuge Herr P. gibt wieder an, Mouhamed habe nicht aggressiv gewirkt, sondern abwesend, in sich ruhend, “als wäre er in seinem eigenen Kopf”. Er gibt auch an, den Befehl “Vorrücken, einpfeffern, das volle Programm, die ganze Flasche” gehört zu haben, ebenso steht es im verlesenen Funkverkehr. Der Zeuge habe dann beobachtet, wie Mouhamed nach dem Einsatz des Pfeffersprays aus der Ecke herausgekommen und langsamen Schrittes und mit seitlich des Körpers herunterhängenden Armen auf die Polizeibeamten zugegangen sei. Seine Bewegung beschreibt Herr P. als “desorientiert, nicht zielorientiert”.
  • Verteidiger Brögeler setzt zur Verunglaubwürdigung aller zivilen Zeug*innen an, indem er (vermeintliche) Widersprüche in deren Aussagen kontrastiert. Dies scheint eine Vorbereitung darauf zu sein, die folgenden Polizeizeug*innen als “Berufszeug*innen”als einzig wirklich verlässliche Aussagende zu etablieren.
  • Anträge der Nebenklage, z.B. zur Hinzuziehung von Materialien aus der Akte wie 3D-Bilder des Tatorts, werden unter ausbleibender Unterstützung der Staatsanwaltschaft wiederholt von der Kammer abgeblockt, diesmal auch mit Gerichtsbeschluss.
  • Ab dem nächsten Prozesstermin sagen weitere beteiligte Polizist*innen als Zeug*innen aus. Die Kammer terminiert die Prozesstermine bis September 2024.
  • Nächster Termin: Mittwoch, 28. Februar, um 9:30 (Hamburger Straße 11) / Mahnwache ab 7:30, Kaiserstraße 34. Kommt hin!

Erste politische Einschätzung

Am 5. Prozesstag wurde viel über Einzelaspekte der Tat vom 8. August 2022 gesprochen – in welchem Tempo Mouhamed sich nach Einsatz des Pfeffersprays bewegte, in welcher Position sich seine Arme befanden, etc. Die Verteidigung stürzt sich auf Widersprüche in den Aussagen und versucht, Aussagen ziviler Zeug*innen insgesamt zu verunglaubwürdigen. Im Gegensatz dazu gelten Polizeizeug*innen als “Berufszeug*innen” vor Gerichten als besonders glaubwürdig – ironischerweise, weil sie hier die einzigen Aussagenden sind, ein (institutionelles) Interesse mitbringen. Es kann bestimmt stellenweise zur Aufklärung beitragen, Aspekte des Tathergangs zu klären, um z.B. klar unverhältnismäßige polizeiliche Gewaltanwendungen zu verdeutlichen. Gleichzeitig gilt: Das Problem ist nicht diese oder jene Reaktion von Mouhamed. Die Polizei hat – ohne Not – eine eskalative, gefährliche Lage hergestellt. Es ist nie eine Ansprache in einer für Mouhamed verständlichen Sprache erfolgt. Keine*r der Polizist*innen hat sich Mouhamed gegenüber als solcher ausgegeben, keins der Zwangsmittel wurde angekündigt oder angedroht. Statt zu warten, hat die Polizei eine Sackgasse kreiert, Mouhamed umstellt und ihn in Sekundenabständen mit verschiedenen Waffen angegriffen. Die Situation war für Mouhamed ausweglos – außer in Richtung des Schützen.

Dazu kommt das multiple Institutionenversagen, von globaler Ungerechtigkeit als Fluchtursache, gefährlichen Fluchtrouten mit traumatisierenden Folgen, Verantwortungslosigkeit im Versorgungs- und Hilfesystem für Geflüchtete, mangelnde Hilfe in psychischen Notfällen, die Fehleinschätzung einer suizidalen Lage, kein Hinzuziehen von Übersetzer*innen, Rassismus und Gewaltexzesse der Polizei – insbesondere der Dortmunder Wache Nord.

Im Fall Mouhamed kristallisieren sich all diese Probleme. All das kann, soll und wird kein Gericht aufklären. Diese Verhältnisse zu kritisieren und zu verändern ist unsere Aufgabe.

Justice for Mouhamed!

Radio Nordpol – Beitrag zum 5. Prozesstag

In dem Radiobeitrag zum fünften Prozesstag (21.02) hat das Radio Nordpol mit Fanny von NSU watch NRW, dem Arbeitskreis kritischer Jurist:innen Köln und dem Solidaritätskreis Justice4Mouhamed gesprochen.

Außerdem kommt die Initiative 2. Mai Mannheim zu Wort. In Mannheim wird ebenfalls ein Fall von tödlicher Polizeigewalt verhandelt und im Prozessverlauf sind parallen zu dem Dortmunder Prozess erkennbar.

Hier klicken, um den Inhalt von radio.nrdpl.org anzuzeigen

Bericht vom 4. Prozesstag – 31.01.2024

Der Prozesstag in Kürze:

  • Die Familie Dramé ist in Deutschland und heute erstmals in ihrer Rolle als Nebenkläger im Gericht anwesend.
  • Weiterhin ist das Einlassprozedere für Prozessbesucher*innen langwierig, es gibt keine Möglichkeit, während des teils stundenlangen Wartens oder des laufenden Prozesses eine Toilette zu nutzen, ohne den eigenen Platz zu verlieren. Auch der vierte Tag beginnt mit einer guten halben Stunde Verspätung.
  • Richter Kelm verliest verschiedene Spurensicherungsberichte, unter anderem die Aufzählung der am 8. August 2022 verwendeten Waffen. Das gegen Mouhamed eingesetzte Reizstoffsprühgerät hatte sein Ablaufdatum um vier Monate überschritten.
  • Auch Mouhameds Handy wurde als Asservat gehandelt und einer Datensicherung unterzogen.
  • Außerdem sind Mouhameds Kleidung, Ring und Halskette sowie einige Schulbücher Asservate. Mouhameds Bruder Sidy Dramé möchte sich an das Gericht wenden, um eine Aushändigung der wichtigsten Gegenstände seines Bruders zu erbitten, darf das aber nicht, seine Bitte muss in Kürze indirekt von der Anwältin Lisa Grüter vorgetragen werden. Der Staatsanwalt will dem Wunsch nicht nachgehen, da es sich um Beweismittel im laufenden Prozess handle, die Nebenklage setzt aber durch, dass dies zumindest im Fall von Gegenständen, die offensichtlich keine Beweismittel sind, wie etwa Mouhameds Halskette, geprüft wird.
  • Nach drei Wochen Pause geht es am Mittwoch, den 21. Februar, ab 9:30 weiter. Dann sollen die Zeug*innenbefragungen fortgesetzt werden. Richter Kelm gibt auf Nachfrage an, dass nach den bisher bekannten Terminen bis April voraussichtlich einige weitere Mittwochstermine bis Juli folgen werden.

Ausführlicher Bericht vom 4. Prozesstag:

Am 31. Januar 2024 fand der vierte Prozesstag im Gerichtsverfahren gegen fünf der am Tod von Mouhamed Lamine Dramé beteiligten Polizist*innen vor dem Dortmunder Landgericht statt.

Wir waren wieder mit einer Mahnwache und vielen solidarischen Prozessbesucher*innen schon ab sieben Uhr morgens vor Ort.

Seit wenigen Tagen sind auch Angehörige von Mouhamed Dramé, die Brüder Sidy und Lassana Dramé, aus dem Senegal in Deutschland angekommen und können – dank der Arbeit vieler Freiwilliger – am vierten Prozesstag teilnehmen. Als Nebenkläger im Prozess, vertreten durch Lisa Grüter und Prof. Dr. Thomas Feltes, nehmen sie eine wichtige prozessuale Rolle ein.

Ein Übersetzer begleitet die beiden, deren Muttersprache Wolof ist, durch den Prozesstag. Im Gerichtssaal müssen sie aber zunächst, umringt von Pressekameras, eine Dreiviertel Stunde auf den Beginn der Sitzung warten.

Durch den späten Beginn des Einlasses und das weiterhin langwierige Einlassprozedere beginnt der Prozesstag nämlich wieder eine halbe Stunde verspätet. Weiterhin gibt es für Prozessbesucher*innen keine Möglichkeit, während des teils stundenlangen Wartens oder des laufenden Prozesses eine Toilette zu nutzen, ohne den eigenen Platz zu verlieren.

Als alle sitzen, wird ein Besucher mit Mouhameds Konterfei auf dem T-Shirt erst von Justizbeamten, dann von der Kammer aufgefordert, dieses auszuziehen oder den Gerichtssaal zu verlassen, denn es sei, so Richter Kelm, verboten, “Dinge mitzubringen, die auf irgendeine Gesinnung schließen lassen.

Prozessstart gegen 10:30.

Sofort wird klar, dass auf die Anwesenheit der Angehörigen von Mouhamed von Seiten der Kammer kein Augenmerk gelegt oder Rücksicht genommen wird. Es findet keine Begrüßung statt. Zudem führt der Aufbau des Gerichtssaals dazu, dass Nebenklage bzw. Geschädigte und Angeklagte einander direkt gegenüber sitzen, sodass die Brüder Dramé über Stunden die Polizist*innen, die ihren Bruder getötet haben, ansehen müssen. Diese meiden ihre Blicke.

Die gesamte Kammer und fast alle anderen Prozessbeteiligten außer den Brüdern Dramé sind weiß gelesen, sie sind zwei der wenigen Schwarzen Menschen im Saal. Dieses Machtgefälle, wenn auch überdeutlich, bleibt unbenannt.

Nach einem Halbsatz des vorsitzenden Richters Richtung Familie und Übersetzer („Die Verständigung klappt?“) geht es los.

Die Nebenklage beantragt die Ladung eines Zeugen, der technische Bilder wie etwa 3D-Bilder vom Tatort in ihrer Aussagekraft erklären soll, um so eine Verwendung und auch eine korrekte Interpretation dieser Ermittlungsdaten gewährleisten zu können. Hiermit wird auch an den Antrag vom letzten Prozesstag auf Verwendung angemessener technischer Hilfsmittel zur Einsicht von Lichtbildern für Prozessbeteiligte sowie Besucher*innen angeknüpft – dieser war abgelehnt worden. Am gleichen Tag hatte die Befragung von Zeugen zu Lichtbildern am Richtertisch, umringt von 15 Prozessbeteiligten, deutlich gemacht, wie hilfreich die Projektion der Bilder auf eine für alle gut sichtbare Leinwand für die Genauigkeit und Nachvollziehbarkeit der Aussagen sowie für die emotionale Lage der Zeugen gewesen wäre.

Auch der neue Antrag wird von Staatsanwaltschaft und Anwälten der Angeklagten für nicht notwendig deklariert, eine Entscheidung der Kammer steht aus.

Anschließend verliest Richter Kelm verschiedene Spurensicherungsberichte, unter anderem eine Aufzählung der am 8. August 2022 verwendeten Waffen sowie andere Untersuchungsergebnisse, die die dafür bei der Kriminalpolizei Recklinghausen gegründete Mordkommission (MK) Holstein erarbeitet hat. Dabei stellt sich zum Beispiel heraus, dass das gegen Mouhamed eingesetzte Reizstoffsprühgerät sein Ablaufdatum am 8. August 2022 um vier Monate überschritten hatte.

Auch hier werden die entsprechenden Lichtbilder wieder nur auf dem Ausdruck aus der Akte auf dem Richtertisch gezeigt, wofür die Prozessbeteiligten von ihren Plätzen aufstehen und gleichzeitig den Ausdruck ansehen müssen.

Der Richter verliest die Berichte so schnell und undeutlich, dass eine Simultanübersetzung wohl kaum möglich ist.

Sowohl Mouhameds Handy, das einer Datensicherung unterzogen wurde, als auch seine Kleidung, sein Ring und seine Halskette sowie einige Schulbücher werden als Asservate bei der Polizei aufbewahrt. Mouhameds Bruder Sidy Dramé möchte den Wunsch der Familie, dass ihnen die wichtigsten Gegenstände seines Bruders ausgehändigt werden, direkt ans Gericht richten, was ihm aber untersagt wird. Sein Anliegen muss in Kürze von der Anwältin Lisa Grüter vorgetragen werden. Der Staatsanwalt will dem Wunsch nicht nachgehen, da es sich um Beweismittel im laufenden Prozess handle. Die Nebenklage setzt aber durch, dass dies zumindest im Fall von Gegenständen, die offensichtlich keine Beweismittel sind, wie etwa Mouhameds Halskette, geprüft wird.

Nach etwa neunzig Minuten endet der vierte Prozesstag.

Nach drei Wochen Pause geht es am Mittwoch, den 21. Februar, ab 9:30 Uhr weiter. Dann sollen die Zeug*innenbefragungen fortgesetzt werden. Richter Kelm gibt auf Nachfrage an, dass auf die bisher bekannten Termine bis April voraussichtlich einige weitere Mittwochstermine bis Juli folgen werden.

Radio Nordpol – Beitrag zum 4. Prozesstag

In dem Radiobeitrag zum vierten Prozesstag hat das Radio Nordpol mit der Anwältin der Nebenklage Lisa Grüter, einem unabhängigen Prozessbeobachter, Britta Rabe vom Grundrechtekomitee sowie dem Solidaritätskreis Justice4Mouhamed gesprochen. Außerdem ist ein Bericht zu der Pressekonferenz vom Vortag zu hören, dieser wird im Anschluss von William vom Solidaritätskreis Mohammed kommentiert. In dem Pressegespräch standen nun endlich zwei Geschwister Mouhameds, Sidy und Lassana Vertreter*innen der Presse gegenüber und teilen ihre Gedanken zu den bevorstehenden Prozesstagen.

Hier klicken, um den Inhalt von radio.nrdpl.org anzuzeigen

Vielen Dank an das Radio Nordpol Team!

Pressemeldung vom 29. Januar 2024

Zwei Brüder von Mouhamed Lamine Dramé sind in Deutschland und werden am Gerichtsprozess teilnehmen

Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed hat in den letzten Monaten Spenden für Familie Dramé gesammelt. Nach intensiver Arbeit hinter den Kulissen, können wir heute endlich verkünden: Zwei Brüder von Mouhamed, Sidy und Lassana Dramé, sind in Deutschland und werden am Prozess teilnehmen. Sie werden am 31.01.2024 als Nebenkläger im Gerichtssaal anwesend sein.

Sidy Dramé, der ältere Bruder von Mouhamed, hat dafür in einem Video Grußworte an die solidarischen Menschen gerichtet:

Ich grüße euch im Namen der Familie Dramé. Nun sind wir da für die Prozesstage. Ich möchte alle grüßen, die uns dabei geholfen haben, nun am Prozess teilnehmen zu können. […] Und auch alle Personen, die hinter [dem Solidaritätskreis] stehen, wollen wir herzlichst grüßen! Wir sind sehr glücklich, nun mit euch zu sein und hier vor Ort mit euch zu kämpfen! Wir sind auch sehr, sehr zufrieden, bald im Saal zu sein. Dabei zu sein an den Prozesstagen. Um dort alles zu sehen und mitzubekommen, wie es dort läuft.“

Auch der Solidaritätskreis bedankt sich bei allen solidarischen Menschen. Eure Spenden ermöglichen der Familie Dramé die Teilnahme am Gerichtsprozess.

Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed setzt sich seit dem Tag der Tötung Mouhameds am 08.08.2022 für Aufklärung und Gerechtigkeit ein. Wir sind in engem Kontakt mit der Familie Dramé und haben stets unser Handeln an den Wünschen der Familie orientiert. Einer der größten Wünsche der Familie Dramé war von Anfang an, im Gericht anwesend sein zu können. Sie wollen bei dem Prozess vor Ort sein, in dem es darum geht, dass ihr Bruder mit unfassbarer Polizeigewalt in einer psychischen Ausnahmesituation von Beamt*innen erschossen wurde.

Aus Respekt für die Famile und die große Belastung, die ein solcher Prozess für Angehörige bedeutet, bitten wir Presse- und Medienvertreter*innen ausdrücklich, die Brüder Dramé während der Verhandlungstage und darüber hinaus in Ruhe zu lassen.

Solidaritätskreis fordert Verantwortungsübernahme der Stadt Dortmund

Die Pressesprecherin des Solidaritätskreises Justice4Mouhamed bedankt sich für die breite Solidarität und appelliert gleichzeitig an die Stadt Dortmund: Wir sind sehr froh, dass wir mit viel Unterstützung der Zivilgesellschaft die Einreise von Mouhameds Brüdern erreichen konnten. Wir erwarten weiterhin, dass die Stadt Dortmund sich an den Kosten beteiligt und somit Verantwortung übernimmt.“

Die beiden Brüder von Mouhamed werden an den nächsten Prozessterminen teilnehmen. In seiner Videobotschaft fordert Sidy Dramé: „Gerechtigkeit für Mouhamed! Wir sind auch hier, damit ganz Deutschland hinschaut und uns hilft, den Kampf bis zum Ende zu führen. […] Danke an alle, die mit der Familie Dramé mitfühlen!“

Wir werden gemeinsam an der Seite der Familie kämpfen, bis Mouhamed Gerechtigkeit erfährt. Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed wird die Familie bei ihrem Aufenthalt in Dortmund und weiterhin auch im Senegal unterstützen. Um dies zu gewährleisten, sind wir weiterhin auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Wer dabei helfen möchte, kann dies über unsere Spendenkampagne bei Betterplace tun:

www.betterplace.org/de/projects/131472-prozessteilnahme-der-familie-drame-sowie-solidarische-prozessbegleitung

Wir fordern: Gerechtigkeit für Mouhamed und seine Familie!

Solidaritätskreis Justice4Mouhamed


Hintergrundinformation

Am 19.12.2023 startete der Gerichtsprozess gegen fünf Polizist*innen, die an dem Einsatz, bei dem Mouhamed Lamine Dramé erschossen wurde, beteiligt waren. Der Schütze muss sich wegen Totschlag, drei Beamt*innen wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt und der Einsatzleiter wegen Anstiftung zu gefährlicher Körperverletzung verantworten.

Als Solidaritätskreis begleiten und beobachten wir den Prozess. Bislang wird dabei vor allem eines deutlich: ein völlig unverhältnismäßiges Vorgehen der Polizei gegen den 16-jährigen Mouhamed am 08.08.2022. Mouhamed hätte in der psychischen Ausnahmesituation, in der er sich befand, Hilfe benötigt – stattdessen eskalierten die Beamt*innen die Situation mit krasser Polizeigewalt. 

Das Notrufprotokoll zeigt das Polizeiversagen auf. Die Polizei wusste, welche Sprachen Mouhamed sprach und dass er bereits eine Woche zuvor in psychiatrischer Behandlung war.

Mouhamed war kein Einzelfall!

Aktuelle Studien belegen, dass 75 Prozent der Menschen, die Polizeigewalt erleben, sich in einer psychischen Krise befinden. Am Beispiel von Mouhamed wird das Versagen der Polizei in solchen Situationen besonders deutlich. Es bedarf anderer Strategien, sodass Menschen in psychischen Krisen die Hilfe bekommen, die sie benötigen. Dazu gehören weder Pfefferspray noch Taser oder eine Maschinenpistole.

Kommende Prozesstermine:

31.01.202406.03.202403.04.2024
21.02.202413.03.202417.04.2024 
28.02.202420.03.2024 

Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed begleitet mit vielen Unterstützenden und solidarischen Menschen den Prozess. Wir organisieren zu jedem Prozesstag (Termine am Ende der Seite) eine Mahnwache für Mouhamed und seine Familie. Alle Menschen sind herzlich zu den Mahnwachen vor dem Landgericht eingeladen.

Wo?

Gericht Kaiserstr. 34, 44145 Dortmund

Wann?

Wir sind ab 07:30 Uhr vor Ort.

Kontakt:

solidaritaetskreismouhamed@riseup.net

https://www.instagram.com/solidaritaetskreismouhamed/

Bericht vom 3. Prozesstag – 17.01.2024

Mit dem dritten Prozesstag beginnt nun, knapp vier Wochen nach Prozessbeginn, die inhaltliche Erörterung der Tat vom 8. August 2022. Wir erleben dabei einen wohl entscheidenden Prozesstag, an dem erstmals in der gerichtlichen Hauptverhandlung Wesentliches öffentlich wird.

Nach der Entscheidung über einen Antrag der Nebenklage werden die ersten beiden Zeugen befragt – beides Mitarbeiter der Jugendhilfeeinrichtung, in der Mouhamed Dramé nach kurzem Aufenthalt am 8. August 2022 durch die Dortmunder Polizei getötet wurde.

Hinweis: Die Zeugenaussagen im folgenden Text beschreiben die Tat im Detail.

Der dritte Prozesstag in Kürze:

Wir sind erneut mit einer Mahnwache vor dem Landgericht präsent, im Saal sind viele solidarische Prozessbegleiter*innen.

Die richterliche Auflage zu Vorlage und Scannen der Personalausweise beim Einlass ins Gericht wurde ausgesetzt. Weitere organisatorische Hürden und Unklarheiten (z.B. Barrierefreiheit, Toilettensituation) bleiben bestehen.

Der Teamleiter der Jugendhilfeeinrichtung wird als erster Zeuge befragt. Er berichtet, dass Mitarbeitende der Einrichtung Mouhamed am Nachmittag des 8. August 2022 „ganz klar mit der Absicht der Selbstverletzung” vorgefunden haben. Dies kommunizierte er, wie auch der später gehörte Zeuge, der Polizei deutlich. Zu Beginn des Notrufgesprächs wird dem Zeugen auf Nachfrage hin bestätigt, mit dem Notruf bei der Polizei an der richtigen Stelle zu sein. Laut seinen Aussagen „ging dann alles ganz schnell”. Er bezeugt, dass Mouhamed nach den Schüssen Handschellen angelegt worden seien, die erst kurz vor Eintreffen der Rettungskräfte wieder abgenommen worden seien.

Der zweite Zeuge, ein Betreuer der Einrichtung, welcher in den Tagen zuvor persönlichen Kontakt zu Mouhamed hatte, wohnte der bisher nur medial bekannten Einsatzbesprechung bei: In dieser gab der Einsatzleiter Thorsten H. den mehrstufigen Einsatzplan vor: Ansprechversuch, Einsatz von Pfefferspray, dann von Tasern – und letztlich die Schussabgabe mit der Maschinenpistole. Zum Schützen Fabian S. soll er dabei gesagt haben: „Du bist unsere Last Chance, unser Last Man Standing”. Der Zeuge berichtet weiter, dass Mouhamed nach Einsatz des Pfeffersprays langsam und „eher desorientiert” wirkend mit herunterhängenden Armen aus der Nische des Hinterhofs hervorgekommen sei. Infolge der Schüsse habe Mouhamed mit „schmerzverzerrtem Gesicht” am Boden „vor Schmerzen gejohlt” und sich unter der Fixierung mit Handschellen gewunden. Einsatzleiter H. sei dann an Mouhamed herangetreten und habe ihm mit den Worten „Wird alles gut” einen leichten Tritt in den Bauch versetzt.

Beide Zeugen müssen, von bis zu 15 anderen Prozessbeteiligten umringt, vor den Richtertisch treten, um auf in den Akten befindlichen Fotos die Positionierungen der Beamten aufzuzeigen. Die Befragung zum Tatgeschehen sowie diese bedrängende Situation setzen dem zweiten Zeugen emotional sichtlich zu. Gefragt nach den Gründen eröffnet er: Der 8. August 2022 und das Gesehene seien „eines der schlimmsten Erlebnisse” seines Lebens. Die Befragung wird daraufhin unterbrochen und soll beim übernächsten Prozesstermin am 21. Februar fortgesetzt werden.

Für den 31. Januar ist ein kurzer Prozesstag mit Verlesung von Beweismitteln aus der Akte vorgesehen.

Ausführlicher Bericht vom 3. Prozesstag:

Mittwochmorgen, 17. Januar 2024. Wie schon bei den ersten beiden Prozesstagen ist der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed vor dem Haupteingang des Landgerichts mit einer Mahnwache präsent, auf der anderen Seite des Gebäudes bildet sich bereits ab 8 Uhr eine Schlange vor dem Hintereingang zum Gerichtssaal 130. Wieder warten viele Besucher*innen auf Einlass zum Gericht. Nach drei Prozesstagen gibt es mittlerweile etliche bekannte Gesichter: Viele davon sind solidarische Besucher*innen, aber auch Angehörige und Unterstützende der angeklagten Polizist*innen sind mittlerweile zuzuordnen. Eine Entwicklung heute: Die richterliche Auflage zur Vorlage sowie zum Scannen der Personalausweise in der Sicherheitskontrolle wurde ausgesetzt – ab jetzt können Menschen auch ohne Abgabe persönlicher Daten in den Saal.

Leider erhalten erneut nicht alle Anstehenden Zugang zum Saal. Wer einen Platz will, muss weiter eine halbe Stunde bis Stunde vor Prozessbeginn vor dem Einlass anstehen. An allen drei Prozesstagen zeigte sich, dass sowohl die Prozessbeteiligten als auch das Publikum mehrheitlich weiß gelesen sind. Für die kommenden Termine wollen wir – soweit es in unserer Macht steht – von Rassismus betroffenen Menschen, die am Prozess teilnehmen wollen, vorrangigen Zugang ermöglichen. Hierfür bauen wir im Moment eine Struktur auf. Meldet euch gerne bei uns, wenn ihr euch für den Prozess interessiert, euch aber vielleicht nicht alleine den äußeren und emotionalen Umständen stellen wollt oder könnt.

Weiterhin bleibt die Frage nach barrierefreiem Zugang zum Saal im zweiten Stock, so die Pressedezernentin Nesrin Öcal, “ein nicht geregelter Fall“. Auch kann, wer als Besucher*in den Saal während des laufenden Prozesstages z.B. zum Toilettengang verlassen muss, nicht wieder in den Saal zurückkehren.

Antrag der Nebenklage zum öffentlichen Zeigen der Beweismittel

Aufgrund erneut knapp geplanter Einlasszeiten beginnt der Sitzungstag mit mehr als einer halben Stunde Verspätung um kurz nach 10:00 Uhr.

Der vorsitzende Richter Kelm scheint die Kritik der ersten Prozesstage vernommen zu haben: Er scheint erstmals bemüht darum, dass er beim Sprechen durch das Mikrofon für alle im Saal hörbar ist. Er gibt einen groben Überblick über den weiteren prozessualen Ablauf.

Gleich zu Beginn des Tages beantragen Prof. Dr. Thomas Feltes und Lisa Grüter im Namen der Nebenklage, dass Dokumente wie etwa Fotos und Abbildungen aus der Akte ab sofort nicht mehr nur am Richtertisch, sondern etwa an dem im Saal vorhandenen Bildschirm allen Anwesenden gezeigt werden. Prof. Dr. Feltes, der den mehrseitigen Antrag vorträgt, begründet dies damit, dass nur so die vollumfängliche Beteiligung aller Verfahrensbeteiligten gegeben sei – außerdem hätten so auch anwesende Presse und Besucher*innen die Möglichkeit, den Prozess mitzuverfolgen, wodurch eine Kontrolle der richterlichen Handlungen gegeben sei, das Vertrauen in die Rechtspflege gestärkt und eine Transparenz des letztendlichen Urteils hergestellt würde. Darüberhinaus könne sich ansonsten ein Revisionsgrund ergeben. Letztlich würde so auch dem enormen öffentlichen und medialen Interesse an dem Fall Rechnung getragen.

Unmittelbar widerspricht Oberstaatsanwalt Dombert dem Inhalt des Antrags. Richter Kelm verkündet daraufhin, dass sich die Kammer, nach nur einer Viertelstunde Prozess, nun für eine Dreiviertelstunde zur Beratung über den Antrag zurückziehen müsse. Eine weitere Verzögerung ergibt sich, weil eine der Schöffinnen in einem parallel stattfindenden Prozess am Landgericht einspringen muss – kurzerhand wird die Sitzung bis 12:00 Uhr unterbrochen. Die eigentlich zwecks Verwahrung von Gegenständen ausgeteilten Zettel mit Nummern werden, nach kurzer Unklarheit, seitens der Gerichtssprecherin zu Einlasskarten umfunktioniert.

Gegen 12:15 geht es im Gerichtssaal dann weiter. Richter Kelm verliest den in der Pause getroffenen Beschluss der Kammer: Der Antrag der Nebenklage wird abgelehnt. Alle formal Prozessbeteiligten hätten ohnehin Einsicht in die entsprechenden Bilder, eine Präsentation und Erörterung in der öffentlichen Hauptverhandlung sei über das Zeigen am Richtertisch hinaus rechtlich nicht erforderlich. In der Strafprozessordnung sei nicht vorgesehen, dass Zuschauende sowie die Presse Lichtbildbeweise in Augenschein nehmen können – dies stelle also keinen Revisionsgrund dar. 

Neben dem begrenzten Einlass zum Saal beschneidet dies aus unserer Sicht als Prozessbesuchende den Öffentlichkeitsgrundsatz zusätzlich und ignoriert die große Aufmerksamkeit, die auf diesem Gerichtsprozess sowie der Tötung Mouhamed Dramés liegt.

Erste Zeugenbefragungen und Verlesung des Notrufmitschnitts

Anschließend beginnen die Befragungen zweier junger Sozialarbeiter, die zur Tatzeit Dienst in der Jugendhilfeeinrichtung St. Elisabeth der katholischen St. Antonius Gemeinde leisteten. 

Der Teamleiter der Jugendwohngruppe, Herr G., berichtet, Mouhamed sei am Nachmittag des 8. August “ganz klar mit der Absicht der Selbstverletzung” im Hinterhof der Einrichtung vorgefunden worden. Nachdem Mouhamed auf Ansprachen mehrerer Mitarbeitender – persönlich sowie mithilfe einer digitalen Übersetzungsanwendung – keine Reaktion gezeigt habe, habe man die Entscheidung getroffen, die Polizei zu verständigen. Er sei hierfür in die Einrichtung zum Haustelefon gegangen, sei dort am offenen Fenster stehen geblieben und habe durch dieses mit seinen Kolleg*innen im Hinterhof kommuniziert sowie die Polizeinotrufstelle fortlaufend über die von ihm aus dieser Position zu überblickende Situation informiert.

In Anwesenheit des Zeugen G. verliest der Richter die polizeiliche Abschrift dieses knapp 20-minütigen Gesprächs und stellt dabei immer wieder Zwischenfragen – die Tonaufnahme selbst soll zu einem späteren Verfahrenszeitpunkt abgespielt werden.

Zeuge G. berichtet weiter, er habe gleich zu Anfang des Telefonats die Situation sowie Mouhameds Verfasstheit geschildert– und dann gefragt, ob er hier (bei der Polizei) oder eher beim Notarzt richtig sei. Die knappe Antwort: „Da sind Sie auf jeden Fall bei uns richtig.”

Am Telefon berichtet Herr G., Mouhamed habe sich “in einer Ecke [des Hinterhofs] versteckt”, aus der es nur einen Ausweg gebe. Er berichtet weiter, dass Mouhamed ein einfaches Küchenmesser bei sich habe, das er gegen seinen nackten Bauch halte. Er erwähnt Mouhameds kurzen Aufenthalt in der LWL-Klinik am Wochenende zuvor, aus der er aber entlassen worden sei, weil seine Situation als nicht akut eingestuft worden sei. 

Herr G. berichtet, dass er den darauffolgenden Polizeieinsatz aus einiger Entfernung zum Geschehen durch das Fenster eines Büros verfolgt habe, von dem aus er die meisten Beamt*innen, nicht aber Mouhamed selbst, gesehen habe. Zwei Zivilpolizist*innen sondierten seiner Aussage nach erst die Lage, seien dann aber wieder verschwunden und mit den restlichen Einsatzkräften in Uniform zurückgekommen. Die Polizist*innen in Zivil habe er selbst nicht als Polizist*innen erkennen können. Als dann die uniformierten Beamt*innen Position bezogen hätten, habe er eine kurze Unruhe unter ihnen vernommen – „dann“, so G., „ging alles ganz schnell”. Mouhamed habe er erst wieder gesehen, als dieser nach Einsatz des Reizgases hinter der Mauer hervorgekommen sei. Am Telefon sagte er erschrocken: „Ach du meine Güte. Wird der getasert, der Arme?”. Er berichtet, wie er beobachtete, dass Mouhamed unmittelbar danach von mehreren Schüssen getroffen zu Boden ging – just in diesem Moment wird der Notruf seitens der Polizei abrupt beendet. Er habe noch gehört, wie jemand von den Beamten auf Deutsch „Liegenbleiben!” gerufen habe – dies sei die einzige geäußerte Ansprache Mouhameds gewesen, die er deutlich vernommen habe.

Mouhamed sollen dann Handschellen angelegt worden sein, die erst kurz vor Eintreffen der Rettungskräfte im Hof wieder abgenommen worden seien.

Nach Verlesen des Notrufprotokolls wird Zeuge G. schließlich aufgefordert, an den Richtertisch zu treten und die beschriebene Situation auf Fotos in der Akte zu verorten. Die Schöff*innen sowie einige der Anwält*innen stehen auf, sodass letztlich 15 Menschen den Zeugen umringen und versuchen, zugleich einen Blick auf das Blatt zu erhalten.

Da ein Dokument, eine 3D-Rekonstruktion des Blickfeldes des Herrn G., fehlt bzw. auf Anhieb nicht von Richter Kelm in den Akten gefunden wird, wird der Zeuge noch nicht aus dem Zeugenstand entlassen. Seine Vernehmung soll beim übernächsten Prozesstermin am 21. Februar fortgesetzt werden.

Anschließend wird der zweite Zeuge, Mitarbeiter Herr P., befragt. Dieser berichtet, er habe Mouhamed in der Woche vor dem 8. August 2022 kennengelernt. Er beschreibt ihn als fröhlichen Fußballfan – noch am Freitagabend in der Woche vor seinem Tod habe man gemeinsam auf den Sofas der Einrichtung Fußball geschaut. Mouhamed sei darüber hinaus zum Fußballspielen nahe des nicht weit entfernten Borsigplatzes gegangen. 

Ab Samstagmorgen sei er dann „nicht so gut drauf” gewesen, habe wohl am Samstagabend seine Tasche gepackt und gesagt, er könne nicht weiter in der Einrichtung verbleiben. Später habe jemand aus der LWL-Klinik in Aplerbeck in der Einrichtung angerufen und Mouhamed sei von dort mit einem Taxi zurück in die Einrichtung gebracht worden.

Am Nachmittag der Tat hätten Mitarbeitende und Jugendliche auf der Terrasse der Einrichtung gesessen, als einer der Jugendlichen von einem Passanten, der Mouhamed durch den Zaun zur Missundestraße neben der Kirchmauer kauernd entdeckt hatte, angesprochen worden sei. Mehrere Mitarbeitende hätten dann etwa fünf Minuten lang versucht, Mouhamed anzusprechen. Als dann Herr G. den Notruf getätigt habe, ist Zeuge P. laut seiner Aussage auf Bitten der Notrufleitstelle an die Straße vor der Einrichtung geschickt worden, um die Polizei in Empfang zu nehmen.

Dort habe er noch einmal Mouhameds Krisensituation am Wochenende sowie dessen Sprachkenntnisse geschildert. In den folgenden Minuten habe dann in seiner Anwesenheit die Einsatzbesprechung der Beamt*innen stattgefunden, die der Zeuge vor Gericht eindrücklich schildert. Der Einsatzleiter, Angeklagter Thorsten H., habe dort den mehrstufigen Einsatzplan vorgegeben: Versuch der Ansprache, Einsatz von Pfefferspray, um eine Reaktion hervorzurufen; wenn dies nicht funktioniere, sollten Taser genutzt werden. Zum Einsatz der Maschinenpistole soll der Einsatzleiter Herr H. in jener kurzen Besprechung zu dem dort eingeteilten sogenannten Sicherungsschützen Fabian S. gesagt haben: „Du bist unsere Last Chance, unser Last Man Standing”.

Nach dieser Besprechung gingen, so P., er selbst, die Beamten in Uniform sowie die beiden Zivilbeamten, in den Hinterhof. Eine kurze zweite Besprechung außerhalb des Sichtfeldes Mouhameds sei gefolgt. Zeuge P. berichtet, er sei im weiteren Verlauf in unmittelbarer Nähe der Polizist*innen im Hof geblieben. 

Nach erfolglosem – zumal für Mouhamed höchstwahrscheinlich unverständlichem – Anspracheversuch durch die Zivilbeamten hätten sich die Uniformierten teils im Hinterhof, teils außerhalb hinter dem Zaun auf der Missundestraße positioniert. Zeuge P. sagt, er habe im Folgenden den Befehl zum Einsatz des Pfeffersprays über Funk sowie dann das Zischen bei dessen Einsatz gehört.

Mouhamed sei dann – langsam und „eher desorientiert” wirkend – mit herunterhängenden Armen, hinter der Mauer hervorgegangen, während die uniformierten Beamten ihm erstmals, aber auf Deutsch, Befehle zugerufen hätten. 

Im Folgenden beobachtete der Zeuge laut seinem Bericht dann den Einsatz der Taser, sah, wie einer der Drähte Mouhamed traf – und schaute dann weg. Er habe dann Schüsse „sehr schnell hintereinander” gehört. Als er wieder hingeschaut habe, habe er gesehen, wie Mouhamed vornüber fiel und von Beamten zu Boden gebracht wurde. Mouhamed hat dann, so erzählt er, mit „schmerzverzerrtem Gesicht” am Boden „vor Schmerzen gejohlt” und sich unter der Fixierung seiner Arme auf dem Rücken mit Handschellen gewunden. Einsatzleiter H. sei dann zu Mouhamed hingegangen, habe knapp bemerkt: „Wird alles gut” und ihm dabei leicht in den Bauch getreten

Dann erst seien die Rettungskräfte – obwohl diese bereits zeitgleich mit dem ersten Polizeieinsatzfahrzeug angekommen und während des Polizeieinsatzes im Hof unmittelbar vor der Hofeinfahrt gestanden hätten – herangezogen worden. Auch der Zeuge P. sagt, wie der Gruppenleiter G. zuvor, aus, dass erst mit dem Betreten der Rettungskräfte der Befehl erteilt worden sei, Mouhameds Handschellen wieder zu lösen.

Richter Kelms Augenscheinnahme am Richtertisch hat unmittelbare Folgen

Auch der zweite Zeuge soll dann, unter den zunehmend ungeduldigen Fragen des vorsitzenden Richters Kelm, und umringt von den Verteidigern der fünf Angeklagten, vor dem Richtertisch die Standorte der Beamten auf Fotos aus der Akte anzeigen. Dabei und in der nachfolgenden Befragung durch die Vertreter*innen der Staatsanwaltschaft wird er still, braucht länger für seine Antworten. Auf Nachfrage des Staatsanwalts, der feststellt, dass der Zeuge doch zuvor so klar ausgesagt habe, erwidert er sichtlich angeschlagen: Nicht nur sei die Tat anderthalb Jahre her, auch handle es sich um „eines der schlimmsten Erlebnisse” seines Lebens. Anwalt Prof. Dr. Feltes beantragt daraufhin die Beendigung der Befragung und eine psychologische Unterstützung der Zeugen bei weiteren Vernehmungen. Richter Kelm unterbricht dann die Befragung und erklärt, diese bei einem nächsten Termin abzuschließen. Er beendet um kurz vor 15:00 Uhr den dritten Sitzungstag.

Relativ schnell müssen alle den Saal verlassen – Richter Kelm scheint diesem ersten inhaltlichen Prozesstag nicht mehr Zeit eingeräumt zu haben, denn um 15:00 Uhr steht im Sitzungssaal die Urteilsverkündung in einem anderen Strafverfahren an.

Fazit dritter Prozesstag und Ausblick

Die heutigen Befragungen haben einige schockierende und brutale Details im Umgang der Beamt*innen mit Mouhamed Dramé am 8. August 2022 öffentlich gemacht. Der verlesene Polizeinotruf offenbart nicht nur einen genauen Zeitablauf der Geschehnisse, sondern enthält auch eine Vielzahl von Aussagen, die polizeiliche Logiken in einer solchen Situation verdeutlichen.

Die Situationen, in denen die Zeugen auf Bildern Details des Ablaufs der Tat am Richtertisch, belagert von einer Vielzahl Prozessbeteiligter, anzeigen sollten, verdeutlichen, wie hilfreich die am Morgen beantragte Darstellung von Fotos und Abbildungen in einer angemesseneren Weise gewesen wäre. Nicht nur hätte sie den Zeugen die bedrängende Situation erspart, auch hätte dies wohl allen anderen Prozessbeteiligten ebenso wie den anwesenden Pressevertreter*innen und Zuschauer*innen ein besseres Verständnis des Tatgeschehens ermöglicht.

Einen Rückblick auf den dritten Prozesstag gibt es auch zum Anhören bei Radio Nordpol: https://radio.nrdpl.org/2024/01/19/dritter-prozesstag-im-fall-der-toetung-von-mouhamed-lamine-drame-in-dortmund/

Beim nächsten Termin am 31. Januar sollen in einem kurzen Termin von ca. einer Stunde einige Berichte verlesen werden. Beim übernächsten Termin am 21. Februar sollen die beiden Zeugenbefragungen zu Ende geführt werden.