Bericht vom 11. Prozesstag – 17.04.2024

Der 11. Prozesstag in Kürze:

Im folgenden Bericht werden Aspekte der Tat vom 8. August 2022 benannt.

  • Erste Einlassungen der Angeklagten: Von Einsatzleiter Thorsten H., angeklagt wegen Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat (gefährlicher Körperverletzung), sowie Markus B., angeklagt wegen gefährlicher Körperverletzung.
  • Beide geben kein Bedauern und keine Zweifel am Einsatz zu. Sie stützen sich auf die schon bekannten Narrative einer für sie bedrohlichen Lage, von Zeitdruck und einem korrekten Vorgehen in einer durch Mouhameds Verhalten entgleisten Situation.
  • Beide behaupten: Geplant sei nur der Einsatz von Pfefferspray gewesen, durch dessen Anwendung Mouhamed entwaffnet werden sollte. DEIG (Taser) und Maschinenpistole seien nur vorsorglich zur Eigensicherung mitgenommen worden. Thorsten H. sagt aus: “Hätte Mouhamed das Messer weggelegt nach dem RSG, hätten DEIG und MP nicht benutzt werden müssen.” – eine deutliche Schuldumkehr, die den Betroffenen selbst dafür verantwortlich macht, nicht erschossen zu werden.
  • Die Befragung ergibt, dass weder Zivilbeamte noch Thorsten H. und seine Einheit sich Mouhamed gegenüber als Polizei zu erkennen gaben. Auch lenkt H. ein, dass die Zwangsmittel nicht, geschweige denn in einer für Mouhamed verständlichen Sprache, angedroht wurden: “Die Worte “Messer weg”, “Pfeffer”, sind nicht gefallen.”
  • Fingierter Zeitdruck: Obwohl die Polizei eine statische Lage vorfand und Mouhamed im gesamten Zeitraum ihres Aufstellens keinen Anschein machte, den Suizid zu realisieren, handelte die Polizei eilig und mit massiver Gewalt. Thorsten H. begründet dies so: “Soll ich darauf warten, dass Herr Dramé sich das Messer in den Bauch rammt und dann stehen da 12 Polizisten und machen nichts?“
  • DEIG-Schütze Markus B. stellt in seiner Befragung einen deutlich rassistisch aufgeladenen Zusammenhang zwischen Mouhameds “Muskelpartien” am unbekleideten Oberkörper an dem heißen Sommertag und einem “aggressiven Verhalten” her. Mouhamed verharrte zu diesem Zeitpunkt seit geraumer Zeit still und teilnahmslos in einer sichtgeschützten Ecke des Geländes.
  • Thorsten H. fasst die Einschätzung unmittelbar nach dem Einsatz so zusammen: „Wir waren der Ansicht, als wir noch vor Ort waren, dass der Einsatz gut gelaufen ist.“
  • H. hatte bei der Fesselung von Mouhamed zumindest drei der Schusswunden an Oberkörper und Kopf gesehen. Dennoch sagt er zur Nachricht über den späteren Tod Mouhameds im Krankenhaus: “Ich war erschrocken. Entsetzt. Ich hab damit nicht gerechnet.“
  • Angesprochen auf gelöschte Chats auf seinem Handy gibt H. an, dies tue er regelmäßig, er habe nichts verheimlicht.
  • Auf Rat von Hs. Anwalts Michael Emde wird seine Einlassung vorzeitig abgebrochen. Fragen der Nebenklage werden nicht mehr zugelassen.
  • Nach Diskussionen unter den Prozessbeteiligten um die Nutzung der ersten Aussagen der nun Angeklagten kurz nach der Tat, in der diese formal falsch als Zeug*innen statt als Beschuldigte befragt wurden, fordert die Nebenklage eine Grundsatzentscheidung der Kammer. Richter Thomas Kelm beurteilt die Aussagen kurzum als nicht verwertbar. Die Nebenklage verliest daraufhin eine ausführliche, förmliche Beanstandung, die die Wichtigkeit der Aussagen für eine effektive Aufklärung betont. Sollte die Entscheidung zur Anwendung des Beweisverwertungsverbots bestätigt werden, dürften wertvolle Aussagen der Angeklagten, bevor diese Zeit hatten, eine kohärente Aussage über ein vermeintlich korrektes Vorgehen ihrerseits zu formulieren, vom Gericht nicht beachtet werden.

Weiter geht es am Montag (!), den 22. April, ab 9:30. Dies soll nur ein kurzer Termin (30-60 min) mit Verlesung von Urkunden werden. Die Einlassungen sollen nach vier Wochen Pause fortgesetzt werden am übernächsten Termin, dem 22. Mai um 9:30. Wir freuen uns wie immer über solidarische Prozessbeobachter*innen (Eingang Hamburger Straße 11) sowie Teilnahme an unserer Mahnwache ab 7:30 vor dem Gericht (Kaiserstraße 34). Der Einlass zum Verfahren beginnt erfahrungsgemäß gegen 8:15.

Ausführlicher Bericht vom 11. Prozesstag:

Ein Verhandlungstag, an dem viel passiert: Die ersten beiden der fünf Angeklagten machen Einlassungen: Einsatzleiter Thorsten H., angeklagt wegen Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat (gefährlicher Körperverletzung), sowie Markus B., der einen von zwei Tasern gegen Mouhamed schoss, angeklagt wegen gefährlicher Körperverletzung.

Thorsten H. ist seit 1985 Polizeibeamter und arbeitet seit 2011 als Dienstgruppenleiter auf der Wache Nord. Markus B. hat 2005 bei der Bundespolizei angefangen, ist 2011 nach seinem Studium in den gehobenen Dienst gewechselt und arbeitet seit 2014 auf der Wache Nord. Seit seinem Dienstantritt 2014 bis zum 08.08.2022 haben sie in derselben Einheit gearbeitet. Zum 01.09.2022 wurden beide versetzt – Markus B. in den Innendienst und Thorsten H. zur Verkehrspolizei.

Beide Angeklagte rechtfertigen Einsatz

Die Angeklagten lassen kein Bedauern an Mouhameds Tod oder Zweifel an ihrem Einsatzvorgehen verlauten. Stattdessen stützen sie sich auf die schon bekannten Narrative einer für sie bedrohlichen Lage, welche von Zeitdruck geprägt war, sowie von einem korrekten Vorgehen in einer durch Mouhamed entgleisten Situation.

Beide behaupten: Geplant sei nur der Einsatz von Pfefferspray gewesen, durch dessen Anwendung Mouhamed entwaffnet werden sollte. Dies sei in Einsätzen mit suizidalen Personen üblich und in ihren langjährigen Erfahrungen auch sonst immer erfolgreich gewesen. DEIG (Distanzelektroimplusgerät, „Taser“) und Maschinenpistole seien nur vorsorglich zur Eigensicherung mitgenommen worden. Thorsten H. sagt aus: “Hätte Mouhamed das Messer weggelegt nach dem RSG, hätten DEIG und MP nicht benutzt werden müssen” – eine deutliche Schuldumkehr, die den Betroffenen selbst dafür verantwortlich macht, nicht erschossen zu werden.

Nachdrücklich betont Markus B. er habe eigenmächtig entschieden, das DEIG einzusetzen. Dieses sei ihm im Vorfeld zur Sicherung „der eigenen Personen“ zugewiesen worden. Eine Aufforderung, es einzusetzen, habe es in der Situation durch den Einsatzleiter H. nicht gegeben. Für ihn sei nicht erkenntlich gewesen, was Mouhamed, getroffen vom Pfefferspray, „mit dem Messer vor hatte“. Er habe Mouhameds Verhalten als Gefahr gedeutet, dass dieser sich selbst oder seine Kolleg*innen verletzt. In dem Moment sei das für ihn eine „Gefahr für Leib und Leben“ gewesen. Deshalb habe er in dem Moment den DEIG zum Selbstschutz für Mouhamed eingesetzt. In ihren Begründungen für den DEIG-Einsatz widersprechen er und Einsatzleiter H. sich. Denn Thorsten H. betont wiederholt, dass DEIG und MP5 lediglich zum Selbstschutz der Polizist*innen eingesetzt wurde.

Unklar bleibt in der Befragung der genaue Abstand der Beamt*innen zu Mouhamed zum Zeitpunkt der Schussabgabe. Die kritischen Fragen von Kammer und Nebenklage legen nah, dass diese Zweifel daran hegen, ob die Beamt*innen den vorgeschriebenen Mindestabstand zu Personen mit Messer eingehalten haben und ob eine Distanzierung anstelle der Schussabgaben möglich gewesen wäre, als Mouhamed sich näherte. Thorsten H. beharrt darauf, dass Mouhamed, getroffen vom Pfefferspray, statt in Richtung des Hofes, wo auch der Großteil der Beamt*innen stand, sich stattdessen auch weiter in die Nische Richtung Mauer, zum oder über den Zaun hätte bewegen können.

Die Befragung ergibt, dass weder Zivilbeamte noch Thorsten H. und seine Einheit sich Mouhamed gegenüber als Polizei zu erkennen gaben. Er sei davon ausgegangen, dass Mouhamed erkannt habe, dass es sich bei ihnen um Polizeibeamt*innen gehandelt habe. Augenkontakt zwischen ihm und Mouhamed fand nicht statt und zwischen Mouhamed und anderen Beamt*innen habe er jedoch nicht wahrgenommen. Dennoch sei er davon ausgegangen, dass die Beamten in Zivil sich Mouhamed gegenüber als Polizisten zu erkennen gegeben hätten. Dies taten sie laut eigenen Zeugenaussagen nicht. Thorsten H.: „Der Auftrag war ja, das Messer fallen zu lassen. Das machen ja keine Bürger.“ Auch lenkt H. ein, dass die Zwangsmittel nicht, geschweige denn in einer für Mouhamed verständlichen Sprache, angedroht wurden: “Die Worte “Messer weg”, “Pfeffer”, sind nicht gefallen.

Fingierter Zeitdruck

Obwohl die Polizei eine statische Lage vorfand und Mouhamed im gesamten Zeitraum ihres Aufstellens keinen Anschein machte, den Suizid zu realisieren, handelte die Polizei eilig und mit massiver Gewalt. Den Zeitpunkt des Pfeffersprayeinsatzes rechtfertigt Thorsten H. damit, dass er gesehen haben will, wie Mouhamed das Messer kurzzeitig sinken ließ, um es daraufhin wieder am Bauch“nachzujustieren“. Die vermeintliche Aktivität bei Mouhamed habe ihn somit zur Anordnung des Pfeffersprays veranlasst. Auf kritische Nachfragen entgegnet er: “Soll ich darauf warten, dass Herr Dramé sich das Messer in den Bauch rammt und dann stehen da 12 Polizisten und machen nichts?“

Markus B. räumt später ein, dass die Situation ihnen Zeit gelassen hätte, sich einzurichten und aufzustellen.

DEIG-Schütze Markus B. stellt in seiner Befragung einen deutlich rassistisch aufgeladenen Zusammenhang zwischen Mouhameds “Muskelpartien” am unbekleideten Oberkörper an dem heißen Sommertag und einem “aggressiven Verhalten” her. Mouhamed verharrte zu diesem Zeitpunkt seit geraumer Zeit still und teilnahmslos in einer sichtgeschützten Ecke des Geländes. Des weiteren entgegnete B. auf die Frage ob er Mouhamed als apathisch wahrgenommen habe: er wirkte so, „als hätte er auf Polizei als solches keine Lust und macht was er für richtig hält.“

Zur Frage, warum auch Thorsten H. seine Waffe aus dem Holster nahm, als Mouhamed wohl schon von den Schüssen der Maschinenpistole getroffen war, sagt dieser, es hätte ja sein können, dass Mouhamed wieder aufstehe. Gefragt, ob nicht auch ein Zielen auf Mouhameds Beine, statt auf Oberkörper und Gesicht, möglich gewesen wäre, sagt dieser aus, dass solche Schüsse häufig nicht dazu führen würden, dass Personen ihre Bewegungen einstellten. Es ginge in Situationen wie dieser darum, eine Person “kampfunfähig” zu machen. In einer Sprachnachricht des Angeklagten Markus B. an einen Kollegen und Freund erläutert dieser, ein sogenanntes „Messerkonzept“ der Polizei schreibe vor, dass „man so lange schießt“, bis ein „Wirkungstreffer erzielt“ wurde.

Auf die Nachfrage nach den mitgeführten Bodycams gibt Thorsten H. an, dass es in der anfänglichen Situation nicht zulässig gewesen wäre, diese anzuschalten, da Mouhamed suizidal war. Bodycams haben lediglich den “Sinn und Zweck, Angriffe auf Polizeibeamte zu dokumentieren.” Als Mouhamed dann auf das Pfefferspray reagierte, habe keiner Zeit gehabt, sie noch anzuschalten.

Als Teil der Rechtfertigung des Einsatzes sagt Einsatzleiter Thorsten H. aus: „Wir waren der Ansicht, als wir noch vor Ort waren, dass der Einsatz gut gelaufen ist.“ H. hatte bei der Fesselung von Mouhamed zumindest drei der Schusswunden an Oberkörper und Kopf gesehen. Dennoch sagt er zur Nachricht über den späteren Tod Mouhameds im Krankenhaus: “Ich war erschrocken. Entsetzt. Ich hab damit nicht gerechnet.“ Der gesamten am Einsatz beteiligten Beamt*innenschaft wurde in den Tagen nach der Tat vom Polizeipräsidenten persönlich Unterstützung ausgedrückt und “alle mögliche psychische Unterstützung” angeboten, wenn es jemandem von ihnen schlecht ginge. Eine inhaltliche oder rechtliche Besprechung des Einsatzes habe es jedoch nicht gegeben.

Angesprochen auf gelöschte Chats auf seinem Handy gibt H. an, dies tue er regelmäßig, er habe damals nichts verheimlichen wollen. Auch auf die Frage nach dem von Zeug*innen angegebenen Satz, H. habe den Schützen Fabian S. bei der Einsatzbesprechung als “last man standing” adressiert, gibt dieser an, dies sei “eigentlich nicht so sein Sprachgebrauch.” Auf Rat von Hs. Anwalts Michael Emde wird seine Einlassung vorzeitig abgebrochen.

Richter Kelm entscheidet über Beweisverwertungsverbot

Nach Diskussionen unter den Prozessbeteiligten um die Nutzung der ersten Aussagen der nun Angeklagten kurz nach der Tat fordert Lisa Grüter für die Nebenklage eine Grundsatzentscheidung der Kammer. Richter Thomas Kelm beurteilt daraufhin spontan die Aussagen als nicht verwertbar. Hier greife das Beweisverwertungsverbot, weil die ermittelnde Polizei Recklinghausen die fünf Beamt*innen als Zeug*innen statt als Beschuldigte geführt und daher vor der Befragung falsch belehrt hatte. Die Nebenklage verliest daraufhin eine ausführliche förmliche Beanstandung, die die Wichtigkeit der Aussagen für eine effektive Aufklärung betont. Auch werden z.B. drei Vorerfahrungen von Thorsten H. mit Schusswaffeneinsätzen sowie Chatnachrichten von Markus B. herangezogen, die beweisen, dass diese wussten oder wissen mussten, dass sie als Beschuldigte gelten. Richter Kelm, Staatsanwältin Yazir, die Verteidiger sowie Teile des Publikums reagieren spöttisch auf die Aktion der Nebenklage. Sollte die Entscheidung zur Anwendung des Beweisverwertungsverbots bestätigt werden, dürften wertvolle Aussagen der Angeklagten, bevor diese Zeit hatten, eine kohärente Aussage über ihr Vorgehen zu treffen, vom Gericht nicht beachtet werden.

Weiter geht es am Montag (!), den 22. April, ab 9:30. Dieser soll nur ein kurzer Termin (30-60 min) mit Verlesung von Urkunden werden. Die Einlassungen sollen fortgesetzt werden am übernächsten Termin, dem 22. Mai um 9:30. Wir freuen uns wie immer über solidarische Prozessbeobachter*innen (Eingang Hamburger Straße 11) sowie Teilnahme an unserer Mahnwache ab 7:30 vor dem Gericht (Kaiserstraße 34). Alle Folgetermine bis September siehe https://justice4mouhamed.org/prozessbegleitung/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert