Im folgenden Bericht werden die Taten der angeklagten Polizist*innen benannt.
Info für Rollifahrer*innen: Beim heutigen Prozesstag haben wir erstmals erfahren, wie der Zugang für Menschen mit Rolli funktioniert. Dafür klingelt mensch frühzeitig vor Prozessbeginn an der Klingel beim Aufzug auf der rechten Seite des Gerichtsgebäudes vom Haupteingang aus (Kaiserstraße 34 – dort gibt es Parkplätze sowie wenige hundert Meter entfernt einen rollstuhlgerechten Aufgang aus der U-Bahn-Station „Ostentor“). Über diesen Eingang kommt man zur Sicherheitskontrolle hinter dem Haupteingang, wo es eine „Flughafenkontrolle“ gibt, und dann über Aufzug und Treppenlift zum Saal 130. Auf dem Weg gibt es eine rollstuhlgerechte Toilette. Es ist möglich, eine Begleitperson mitzubringen, was sich auch empfiehlt, da die Brandschutztüren im Gebäude, in dem mensch sich sonst ohne Begleitung bewegt, nicht automatisch sind. Im Gerichtsaal gibt es einen Rolliplatz zwischen den Sitzbänken. Wir wollen alle Menschen zur Teilnahme ermutigen und können auch für Begleitung und mehr Infos kontaktiert werden unter solidaritaetskreismouhamed@riseup.net oder über Instagram.
In Kürze:
- Richter zieht Heruntersetzung der Anklagepunkte von Vorsatz auf Fahrlässigkeit wegen „Erlaubnistatbestandsirrtums“ bei drei der fünf Angeklagten als möglich an.
- Die verbleibenden drei (!) Termine sind 2., 4. und 12. Dezember je ab 9:30.
Der heutige Prozesstag beginnt mit fast einer Stunde Verspätung und dauert wenige Minuten.
Beim Termin in der letzten Woche hatte die Staatsanwältin angeregt, eine Heruntersetzung der Anklagen aller fünf Angeklagten von vorsätzlichem auf fahrlässiges Handeln in Erwägung zu ziehen, was erheblich geringere Strafen zur Folge hätte. Darüber hatte Richter Kelm angekündigt heute zu entscheiden. Dafür verliest er einen Entscheid.
Hinsichtlich des angeklagten Einsatzleiters Thorsten H. sieht die Kammer keine Irrtumsmöglichkeit nach „Erlaubnistatbestandsirrtum“, also der irrigen Annahme einer Notwehrlage, da Mouhamed zum Zeitpunkt der Einsatzplanung und der Befehle ruhig saß und unansprechbar war. In diesem Fall käme eine eigene Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nach § 229 und § 222 Strafgesetzbuch (fahrlässige Körperverletzung und fahrlässige Tötung) wegen unzureichender Planung des Einsatzes in Betracht. Richter Kelm bezeichnet den Ausgang der Einsatzplanung als „eine Frage der Vorhersehbarkeit“. Allerdings würde, wenn die Handlungen der ihm untergebenen Beamt*innen nicht als Straftaten beurteilt werden, auch bei H. keine Anstiftung zu solchen mehr vorliegen.
Auch hinsichtlich der Angeklagten B., die Pfefferspray auf den ruhig sitzenden Mouhamed abgab, gebe es keine Möglichkeit des Irrtums über eine Notwehrlage. Es käme aber eine Rechtfertigung nach §34 StGB (Strafgesetzbuch) infrage, in dem der rechtfertigende Notstand festgelegt ist, in diesem Fall wegen der Abwendung von Suizidgefahr; ebenso § 8 bzw. § 59 PolG NRW (Polizeigesetz Nordrhein-Westfalen), welche die allgemeine Befugnis der Polizei sowie das Anwenden unmittelbaren Zwangs erlauben (§ 59 PolG beinhaltet allerdings auch das Verbot, rechtswidrige Anordnungen zu befolgen und die Pflicht, Bedenken an der Rechtmäßigkeit einer Anordnung mitzuteilen („Remonstrationspflicht“), was durch Richter Kelm unerwähnt bleibt).
Hinsichtlich der anderen drei Beamt*innen B., B. und S. bestätigt Richter Kelm, dass, auch wenn keine tatsächliche Notwehrlage festgestellt wird, die Möglichkeit in Betracht käme, die Anklagen auf Fahrlässigkeit herunterzusetzen, da die drei Beamt*innen sich im Moment der Schussabgabe durch zwei Taser und die Maschinenpistole, in denen Mouhamed sich auf sie zubewegt haben soll, wenn auch möglicherweise irrtümlich, in einer Notwehrlage gesehen haben könnten (“Erlaubnistatbestandsirrtum”). Bei den beiden Taserschütz*innen würde dann über fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB), beim MP5-Schützen Fabian S. um fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) entschieden werden, statt wie bisher um den Vorsatz dazu.
Richter Kelm trägt abschließend frei vor: „Der Hinweis wurde damit erteilt. Gerade zur Notwehrlage… was im Kopf des Geschädigten vorging, wissen wir nicht. Wir wissen nicht, warum er aus der Ecke rannte [sic]. Die Rechtsprechung macht hier in dubio für den Angeklagten – was ich zweifelhaft finde. Danach könnten wir hier Notwehr annehmen. In jedem Fall ist das so, dass die Angeklagten sich eine Notwehrlage vorgestellt haben, nach den Grundsätzen des Erlaubnistatbestandsirrtums, Herr Dramé wollte sie mit dem Messer angreifen. Das ist nach dem Antrag der Staatsanwaltschaft zu prüfen. Die Rechtsprechung zumindest ist, dass der Vorsatz dann nicht gegeben ist und es auf die Vermeidbarkeit des Erlaubnistatbestandsirrtums auf subjektiver Ebene ankommt.“
Weder Nebenklage noch Verteidiger haben hierzu Anmerkungen.
Richter Kelm informiert, dass am nächster Termin (2. Dezember ab 9:30) die letzten beiden Zeugen und das Plädoyer der Staatsanwaltschaft gehört werden.
Die Nebenklage wird am 4. Dezember ihr Plädoyer halten. Hier wird ein weiterer Termin, ebenfalls mit Beginn um 9:30, stattfinden.
Zuletzt verliest Richter Kelm die Bundeszentralregistereinträge der fünf Angeklagten, die allesamt ohne Einträge sind, vor.
Richter Kelm schließt die Sitzung nach knapp 10 Minuten.
Wir freuen uns auch beim kommenden Termin und insbesondere bei den wohl letzten Prozesstagen am 2., 4. und 12. Dezember sehr über solidarische Unterstützung, ob im Gerichtssaal oder an der Mahnwache vor dem Haupteingang.