Der Prozesstag beginnt wie gewohnt mit etwa 15 Minuten Verspätung.
Heute wird die Aufnahme des Notrufs gehört, der am Nachmittag des 8. August aus der Jugendhilfeeinrichtung an die Polizei abgesetzt wurde. Überraschenderweise gibt Richter Kelm vor dem Abspielen der Aufnahme zu bedenken, dass darin auch die Schussabgabe zu hören ist, was „nicht einfach“ sei, und blickt dabei zu den Brüdern Dramé in der Nebenklage. So – wenn auch nach wie vor indirekt – adressiert und ihre emotionale Belastung bedacht hat das Gericht sie zuvor noch nie.
Daraufhin wird die 22-minütige Aufnahme abgespielt.
Der Anrufer, der Wohngruppenleiter Alexander G., wird im Folgenden als G. abgekürzt. Der Polizist von der Leitstelle wird als A. abgekürzt. Die Dokumentation des Notrufs wurde aus Mitschriften verschiedener Prozessbesucher*innen möglichst originalgetreu rekonstruiert.
[16:25 Uhr]
G. meldet sich mit seinem Namen und der Einrichtung.
G: „Folgende Situation: Eine Junge aus Mali, der seit einer Woche bei uns ist, sitzt mit einem Küchenmesser am Bauch im Hof. Er ist nicht ansprechbar, spricht nicht unsere Sprache. Er reagiert nicht auf unsere Ansprache. Bin ich bei Ihnen da richtig oder ruf ich lieber den Krankenwagen an?“
A: „Sie sind hier bei uns auch richtig.“ Er fragt nach der Adresse, G. nennt sie.
A: „Wie alt ist der?“
G: „16.“
A: „Spricht er Deutsch?“
G. sagt, er spreche Französisch und Spanisch.
A. fragt, ob die Person sich selbst verletzen wolle.
G: „Sieht so aus. Er hält sich ein Messer an den Bauch, steht gebückt an der Wand. Das ist sehr dramatisch. “
A. fragt nach einer weiteren Beschreibung des Ortes. G beschreibt, dass Mouhamed in der Ecke im Innenhof sitze. Er wurde durch Zufall von den Nachbarn entdeckt.
A: „Ist er verletzt?“
G: „Glaube nicht.“
A: „Glauben Sie, er möchte sich selbst verletzen?“ G. bejaht. Mouhamed sei am Wochenende weggelaufen und in der LWL-Klinik gewesen. Dort habe man mittels eines französischen Dolmetschers herausgefunden, dass er sich etwas antun wolle.
A. fragt nach Mouhameds Aussehen.
G: „Das ist ein dunkelhäutiger, junger Mann aus Mali, ca. 170 groß.“
A: „Bekleidung?“
G: „Aktuell ist er oberkörperfrei.“
A. fragt weiteres zur Örtlichkeit.
G: „(…) Da ist ein Zaun, da kommt man nicht so einfach rüber.“
A: „Sollen wir einen RTW gleich mitschicken?“
G: „Kann nicht schaden.“
A. fragt, ob jemand Sicht auf Mouhamed habe. G. entgegnet zwei Kollegen aus der Einrichtung seien draußen im Innenhof und hätten einen Blick auf ihn.
A. teilt mit, dass Kollegen (Polizeibeamte) in Uniform und in Zivil unterwegs seien.
G: „Ist da jemand dabei, der Französisch spricht? Zufällig?“
A: „Weiß ich nicht.“
A. fragt nochmal, ob Mouhamed in der LWL-Klinik war. G. bestätigt.
A: „Was ist das für ein Messer?“
G: „Ein Küchenmesser. Ca. 15-20 cm groß.“
A. fragt, ob es scharf sei.
G: „Ja, also es ist kein Brotmesser, sondern ein scharfes.“
A. fragt, wie der Zutritt zum Innenhof sei. G. antwortet, man komme durch ein Tor in den Innenhof. Ein Kollege würde die Polizeibeamten dann einweisen. Ein Mitarbeiter gehe jetzt vor die Tür.
A: „Ich würde Sie noch kurz in der Leitung halten bis die Kollegen eingetroffen sind. Erstmal gehen wir weiter davon aus, dass er unverletzt ist, ja?“ G. bestätigt. Die Mitarbeiter aus der Einrichtung haben weiter Sichtkontakt auf Mouhamed. Längeres Schweigen in der Leitung.
A: „Können Sie mir die Personalien nennen?“
G: „Muss ich kurz nachschauen: Mouhamed Dramé, geboren am 07.11.2005. Viel mehr hab ich noch nicht. Ausländerbehördlich ist er nicht erfasst.“
A. fragt, ob Mouhamed schon mal mit Suizidabsichten aufgefallen sei. G. ist abgelenkt und sagt, die Polizeibeamten stehen an der falschen Kreuzung. A. sagt, die würden sich dort noch besprechen. G. antwortet auf die vorherige Frage, er wisse nichts von konkreten Suizidversuchen.
G: „Er hat gesagt: Ich will und ich mach. Aber es ist nichts passiert.“
A: „Also verbale Andeutungen, aber nichts konkretes.“ Erneutes Schweigen.
A: „Wenn sich was verändert, teilen Sie mir das bitte mit.“ G. bestätigt.
A. fragt, ob Mouhamed aktuell allein im Innenhof sei. G. antwortet, eine Kollegin sei noch mit Sicherheitsabstand da.
A: „Was heißt das?“
G: „So 3 Meter.“
A: „Von der haben Sie die Informationen?“ G. bestätigt.
A: „Können Sie den Innenhof beschreiben?“
G: „Man kommt durch das Tor durch.“
A. fragt, ob ein Auto durchpasse.
G: „Mit einem kleinen Auto kommt man durch. Die eine Hälfte ist gepflastert, die andere Wiese. Es gibt keine großartigen Hindernisse, ein paar Stühle und Tische. Dann ist da die Kirche und dahinter der Zaun.“
A. fragt, ob man von der anderen Seite in den Hof komme.
G: „Nur über das Tor oder den Zaun. Aber da kommt man nicht unverletzt drüber.“
A: „Wie hoch ist der Zaun?“
G: „1,80 Meter. Aber da sind oben Spitzen drauf.“
A: „Können Sie die Mitarbeiterin erreichen und sagen, dass Sie den Innenhof verlassen soll?“
Man hört, wie G. einer Kollegin sagt, sie solle das weitergeben. Es gibt jetzt keinen Sichtkontakt mehr auf Mouhamed. G. sagt, dass jetzt die Beamten da seien.
G: „Sind das wirklich Ihre Kollegen? Scheint nicht so.“
A. fragt nach, welche Sprachen Mouhamed spreche:
A: „Französisch und …?“
G: „Spanisch.“
A. fragt nach Fahrzeugen im Innenhof.
G: „Ein kleiner Opel und ein Smart.“
A. fragt die Kennzeichen ab.
A: „Das machen Sie sehr gut, das ist sehr hilfreich.“
Es bestehe eine Gefahr für den Jungen und auch für die Kollegen.
G: „Gerade die Fluchterfahrung ist ja auch Traumatisierung irgendwo.“
A: „Ist es möglich, dass die Kollegen sich unbemerkt nähern?“
[16:40]
G: „Es sind alle da. Das ist jetzt ziemlich voll.“
A: „Uniform oder zivil?“
G: „Beides.“
A. fragt erneut, ob man sich Mouhamed unbemerkt näher könne.
G: „Man kommt auf 3 Meter dran ohne gesehen zu werden, wenn die Lage so bleibt.“ Mouhameds Blickrichtung sei zur Missundestraße.
A: „Hat er seine Position schon mal verändert?“ G. verneint.
A: „Können Sie sagen, wo das Messer ist?“
G: „Das Messer ist in seiner rechten Hand.“
A: „Hat er noch ein zweites Messer?“
Ausschließen könne G. es nicht, „aber in der Trainingshose müsste es sichtbar sein.“
G. weist im Hintergrund eine Kollegin an, die Tür zu schließen.
A. fragt, ob Mouhamed mit dem Rücken zum Innenhof sitze. G. antwortet, er lehne an der Mauer.
A: „Sind die Kollegen schon an der Kirche vorbei?“
G. sagt, die seien schon bei Mouhamed. Vier in Zivil, fünf in Uniform.
G: „Die haben ihn auf jeden Fall schon im Blick. Es scheint eine Kontaktaufnahme stattzufinden.“
A: „Können Sie mir aus Ihrer Position noch Infos geben, die die Kollegen vor Ort nicht haben?“
G: „Ich habe die Fluchtgeschichte. Mehr nicht.“
A. sagt, er müsse kurz abklären, ob er G. im Notruf halte oder nicht.
A: „Können Sie abschätzen, wie er auf die Kollegen reagiert wird?“ G. verneint. Er habe Mouhamed heute erst kennengelernt, er sei im Urlaub gewesen und können es nicht einschätzen.
Es folgt ein längeres Schweigen.
G: „Meine Güte, wird der jetzt getasert, der Arme?“
A: „Das kann ich nicht beurteilen.“
G: „Ich habe nur ein gelbes Gerät gesehen.“ A. antwortet, das sei ein Taser.
G: „Alles gut, ich habe mich nur kurz erschreckt.“
A. sagt es sei wahrscheinlich, dass „Hilfsmittel“ eingesetzt werden. Während er redet hört man 5-6 extrem schnell aufeinander folgende Schüsse. Im Hintergrund sind laute Rufe der Polizeibeamten zu hören.
A: „Ich muss mal abklären ob wir diesen Notruf weiter halten…”
G: „Du meine Güte!”
A: „Ok, ich beende dann an dieser Stelle das Gespräch.“
G: „Ja, alles klar, danke Ihnen.“
A: „Danke auch.”
Beide: „Tschüss.“
[16:47 Uhr]
Nach Ende der Aufnahme herrscht einige Sekunden Stille im Gerichtssaal. Vereinzelt werfen Menschen aus dem Zuschauerraum fassungslose Kommentare in die Stille.
Ohne Kommentar fährt Richter Kelm fort, eine Nachfrage zu technischen Details der verwendeten Taser zu beantworten und verliest Informationen zu den Gradwinkeln, in denen die Fern- und Nahbereichskartuschen der Taser jeweils ihre Pfeile verschießen.
Zum Abschluss des Verhandlungstags werden die Inhalte der nächsten Sitzungen grob angekündigt. Später werden die Prozessbeteiligten dann aufgeklärt, dass beim nächsten Termin (9.9.) der Sachverständige Dr. med. Ralf Zweihoff, beim übernächsten Termin (11.9.) der Polizeiausbilder Ulrich B. aussagen sollen.
Der Richter erfragt noch das Einverständnis der Verteidiger zu Dr. Zweihoffs Aussagen, da diese die Aussagen der Angeklagten, die aufgrund eines formalen Fehlers der ermittelnden Polizeistelle in Recklinghausen aktuell unter dem Beweisverwertungsverbot liegen, beruhen; dies wird bejaht.
Verteidiger Brögeler fragt zurück, ob noch folgende schriftliche Gutachten nicht von den Prozessbeteiligten im Selbstleseverfahren zur Kenntnis genommen werden können (statt vom Richter während des Prozesses vorgelesen zu werden). Richter Kelm beantwortet, dass es sich nur um wenige Stellen handle – und ergänzt überraschenderweise, dass das Vorlesen eine einfachere Verdolmetschung an die Nebenklage erlaubt, was zuvor im Prozess noch nie berücksichtigt wurde.
Es geht weiter am 9. und 11. September um je 9:30, dann am 7. Oktober um 14:30. Am 7. wird es wieder eine Mahnwache vor dem Gericht geben sowie eine solidarische Prozessbegleitung, zu der Unterstützer*innen und Interessierte herzlich eingeladen sind.
Alle weiteren kommenden Termine unter: https://justice4mouhamed.org/prozessbegleitung.