Pressemitteilung 17. April 2024 – 11. Verhandlungstag in der Hauptverhandlung am Landgericht Dortmund zum Tod von Mouhamed Lamine Dramé

„Die späten Einlassungen gehören zur Verteidigungsstrategie“

16.04.2024 – In Zusammenarbeit mit dem Grundrechtekomitee und NSU-Watch NRW

Am nun kommenden Mittwoch, den 17. April 2024, wird vor dem Landgericht Dortmund zum 11. Mal in der Anklage gegen fünf Polizist*innen verhandelt. Das Gericht um den vorsitzenden Landgerichtsrichter Thomas Kelm soll Recht sprechen in der Frage, wie der 16-jährige Mouhamed Lamine Dramé am 8. August 2022 von Polizist*innen der Dortmunder Nordstadtwache getötet wurde.

Das Gericht verhandelt seit Mitte Dezember 2023. Nach Monaten der Beweiserhebung wollen zwei der angeklagten Polizist*innen nun endlich Einlassungen zur Sache machen.

„Die Einlassungen der Angeklagten kommen spät. Das überrascht uns nicht. Denn wir gehen davon aus, dass die Polizist*innen auf der Anklagebank jede Möglichkeit nutzen, sich in ihrer Sichtweise auf ihren tödlichen Einsatz vor 1,5 Jahren bestmöglich vorzubereiten,“ sagt Bo, Sprecher*in des Solidaritätskreises Justice4Mouhamed. „Die späten Einlassungen gehören zur Verteidigungsstrategie.“

Nach vier Monaten vor Gericht kennen die Angeklagten inzwischen die Aussagen fast aller Tatzeug*innen, darunter vor allem auch die ihrer eigenen Kolleg*innen, die mit am Einsatz beteiligt waren.

„Wir erwarten von einem Gericht, das die Tragweite des Prozesses ernst nimmt, dass es die Einlassungen der Angeklagten und die Aussagen ihrer Berufskolleg*innen in genau diesen Rahmen einordnet – als strategische Prozessführung der Verteidigung. Die Kammer muss endlich prüfen, wie glaubwürdig das bisher von den Polizist*innen Geschilderte dazu passt, dass am Ende des kurzen Einsatzes ein Mensch durch sie getötet wurde.“

Das zu erwartende große Interesse, welches den Einlassungen der Angeklagten im Prozessgeschehen folgen wird, hat aber einen Haken: „Diese große Aufmerksamkeit ist der Familie Dramé und der Geschichte von Mouhamed Lamine Dramé, noch an keinem einzigen Prozesstag zuteil geworden.“ Im Gegenteil: dem ausdrücklichen Wunsch von Sidy und Lassana Dramé, als Nebenkläger ein Statement abzugeben, wurde von Richter Kelm oder der Staatsanwaltschaft keine Berücksichtigung geschenkt.

„Seit Sidy und Lassana Dramé im Gerichtssaal dabei sein können, sind sie nicht einmal angesprochen, begrüßt oder überhaupt nur wahrgenommen worden. Gericht und Verteidigung tun so, als seien sie Luft,“ ergänzt Alex, Unterstützer*in im Solidaritätskris Justice4Mouhamed.

„Es ist klar, dass Strafprozesse keinen Wert auf zwischenmenschliche Gesten legen – warum auch. Es geht um Rechtsprechung. Dass die Hinterbliebenen aber keines Blickes gewürdigt und in ihrem Anliegen und Schmerz nicht gesehen werden, ist nur schwer auszuhalten.“

Sidy und Lassana Dramé erhoffen sich Gerechtigkeit durch den Prozess für ihre Familie. „Möge die Gerechtigkeit geschehen, möge die Wahrheit ans Licht kommen. Was die Polizei tut, ist überhaupt nicht gerecht. Das ist der Grund, warum die Familie uns hierher geschickt hat. Wir sind hier, um darauf zu warten, dass Gerechtigkeit geschieht. Wir warten darauf, dass am Ende jeder weiß, dass die Polizisten unrecht hatten, als sie unseren Bruder töteten“.

Die beiden Brüder blicken besorgt auf den kommenden Prozesstag: „Wir rechnen mit gut vorbereiteten Aussagen seitens der Polizisten, welche in unserer Erwartung keinen Beitrag dazu leisten werden, die Realität des Geschehenen abzubilden,“ so Sidy Dramé. Sie bitten um zahlreiche Unterstützung am kommenden Prozesstag.

Für den Verhandlungstag am 17. April ist eine Mahnwache des Solidaritätskreises Justice4Mouhamed vor dem Landgericht sowie die solidarische Prozessbeobachtung geplant. Der Gerichtsprozess wird von Beginn an durch den Solidaritätskreis, dem Grundrechtekomitee, NSU-Watch sowie anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen und Einzelpersonen solidarisch begleitet.

Radio Nordpol – Beitrag zum 10. Prozesstag

Zum 10. Verhandlungstag hat das Radio Nordpol Team mit Britta Rabe vom Grundrechtekomitee, Fanny von NSU Watch und Alex vom Solidaritätskreis Justice4Mouhamed gesprochen und die Zeug:innenaussagen der Notfallsanitäter:innen genauer betrachtet. Darüber hinaus wird über die Erkenntnisse des Recherche Zentrums zum Fall des Hans-Jürgen Rose aus Dessau gesprochen (www.recherche-zentrum.org). 

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Danke an das Radio Norpol Team!

Bericht vom 10. Prozesstag – 03.04.2024

Der 10. Prozesstag in Kürze:

Im folgenden Bericht werden Aspekte der Tat benannt.

  • Drei Rettungsdienstler*innen sagen als Zeug*innen aus. Sie werden von Richter Kelm regulär über ihre Pflichten als Zeug*innen belehrt, anders als die zuvor befragten Polizeizeug*innen.
  • Alle drei berichten, sie seien unterwegs über Funk mit den Stichworten „Suizid“ und „Messer“ zur Jugendhilfeeinrichtung beordert worden. Als sie dort ankamen, war die Polizei schon vor Ort. Beamte signalisierten ihnen per Handzeichen, in Entfernung stehenzubleiben. Auf Nachfrage gibt keiner von ihnen an, diese Anweisung hinterfragt zu haben. Während die Polizei ihren Einsatz durchführte, bekamen die Sanitäter*innen von der Leitstelle keinerlei weitere Informationen. Außerdem standen sie in keinem direkten Kontakt zu den am Einsatz beteiligten Polizeibeamt*innen. Erst, nachdem für sie hörbar die Schüsse gefallen waren, wurden sie von Beamt*innen zum Tatort hinzugerufen. Dort fanden sie Mouhamed bäuchlings auf dem Boden liegend, mit hinterm Rücken gefesselten Händen vor. Neben den Schusswunden hatte er gerötete Augen vom Pfefferspray und Tasernadeln an verschiedenen Körperstellen.
  • In zum Polizeisprech auffallend ähnlicher Sprache beschreiben mehrere von ihnen Mouhameds Verhalten als „wehrig“. So begründen sie auch die Fesselung noch im Rettungswagen sowie die Begleitung durch zwei Beamt*innen ins Krankenhaus.
  • Auch fällt auf, dass keine*r von ihnen Beurteilungen abgibt, die einen kritischen Blick auf die Hierarchisierung von Polizei über Rettungskräfte beim Einsatz oder das Vorgehen der Polizei zulassen würden. Dass etwa auch der Rettungsdienst ohne Polizei oder im Beisein der Polizei im Hintergrund hätte aktiv werden können, oder wiederum die eigenen Ressourcen zum Herbeirufen speziell geschulten Personals hätte nutzen können, kommt nicht zur Sprache.

Am Mittwoch, den 17. April, geht es ab 9:30 weiter mit den ersten Einlassungen der Angeklagten.

Ausführlicher Bericht vom 10. Prozesstag:

Zum heutigen Prozesstag findet erneut eine Mahnwache vor dem Landgericht statt und viele solidarische Menschen sind im Saal anwesend.

Heute wird mit der Vernehmung von drei Rettungsdienstler*innen im Prozess fortgefahren. Der Berufsfeuerwehrmann Dominik G. (29), der als Rettungssanitäter am Einsatz beteiligt war. Darüber hinaus die Notfallsanitäterin in Ausbildung, Lucy B. (22), die sich damals in ihrem ersten Ausbildungsjahr befand und der stellvertretende Disponent der Leitstelle und Hauptwachmeister, David D. (32), damals als Praxisanleiter von B. und Notfallsanitäter im Einsatz.

Sie werden von Richter Kelm regulär über ihre Pflichten als Zeug*innen belehrt, anders als die zuvor befragten Polizeizeug*innen.

Passive Rolle der Rettunssanitäter*innen

Ihre Aussagen zum Tathergang sind inhaltlich als auch von der chronologischen Abfolge in ihrer Erzählung sehr deckungsgleich. Es wirkt fast abgesprochen und einstudiert.

Alle drei berichten, sie seien unterwegs über Funk mit den Stichworten „Suizid“ und „Messer“ zur Jugendhilfeeinrichtung beordert worden. Als sie dort ankamen, war die Polizei schon vor Ort. Beamte signalisierten ihnen per Handzeichen, in Entfernung stehenzubleiben. Auf Nachfrage gibt keine*r von ihnen an, diese Anweisung hinterfragt zu haben. Verwunderlich, denn wie David K. aussagt, wurde ihnen über die Leitstelle nicht mitgeteilt, dass auch die Polizei angefunkt wurde und sie somit nicht wissen konnten, dass diese auch am Einsatz beteiligt sein wird. Laut Aussage des Zeugen G. komme die Polizei bei Einsätzen mit suizidalen Personen lediglich hinzu, bzw. wird aktiv, wenn eine Eigengefährdung für die Rettungskräfte bestünde. Kritisch fragt Prof. Feltes nach, ob es sich bei einem Suizideinsatz grundsätzlich erst einmal um einen Hilfs- oder Gefahreneinsatz handelt. Das sei situativ, je nachdem ob die suizidale Person eine Bewaffnung dabeihabe oder nicht, lautet Dominik G.s Antwort. Entrüstet entgegnet Prof. Feltes „aber es ist doch ein Hilfeeinsatz„. G. erwidert, das komme auf die individuelle Situation an.

Während die Polizei ihren Einsatz durchführte, bekamen die Sanitäter*innen von der Leitstelle keinerlei weitere Informationen über die Einsatzlage mitgeteilt. Außerdem standen sie in keinem direkten Kontakt zu den am Einsatz beteiligten Polizeibeamt*innen. Sie haben sich neben dem RTW bereit gemacht, die Trage mit ihrem medizinischen Equipment vorbereitet, einen Notarzt angefordert und auf weitere Anweisungen gewartet. Erst, nachdem für sie hörbar die Schüsse gefallen waren, wurden sie von Beamt*innen zum Tatort hinzugerufen. Dort fanden sie Mouhamed bäuchlings auf dem Boden liegend, mit hinterm Rücken gefesselten Händen vor. Sie erinnern sich, dass mehrere Beamte auf Mouhamed knieten und diesen somit zusätzlich fixierten. Neben den Schusswunden hatte er gerötete Augen vom Pfefferspray und Tasernadeln an verschiedenen Körperstellen.

In zum Polizeisprech auffallend ähnlicher Sprache beschreiben mehrere von ihnen Mouhameds Verhalten als „wehrig“. So begründen sie auch die Fesselung noch im Rettungswagen sowie die Begleitung durch zwei Beamt*innen ins Krankenhaus. Auf Nachfrage von Richter Kelm sagt der Zeuge Dominik G. aus, er könne sich Mouhameds Verhalten „nicht erklären„. Er habe auf der Trage versucht seinen Oberkörper aufzurichten, „als wolle er weglaufen„. Ob das für ihn ein naheliegendes Verhalten sei und durch Schmerzen verursacht worden sei, wie Richter Kelm weiter nachfragt, könne er außerdem nicht bewerten. Diese Aussagen verwundern doch angenommen der Tatsache, dass sie als medizinisches Personal Erfahrung mit den unterschiedlichsten Reaktionen schwer verletzter Menschen haben müssten.

Fehlende kritische Beurteilung des einsatztaktischen Vorgehens

Auch fällt auf, dass keine*r der Zeug*innen Beurteilungen abgibt, die einen kritischen Blick auf das Vorgehen beim Einsatz zulassen würden. Die Hierarchisierung der Polizei über die Rettungskräfte und dass diese die Einsatztaktik und Maßnahmen vorgab, wird als gegeben hingenommen. Dahingegen stellt sich auf Nachfrage der Nebenklage heraus, dass dies nicht zwangsläufig das routinemäßige Vorgehen bei Einsätzen mit suizidalen Personen sei – besonders bei suizidalen Menschen, welche sich apathisch verhielten (wie im Falle Mouhameds). Denn wenn keine Eigengefährdung bestünde, bei der eine Zusammenarbeit mit der Polizei als notwendig erachtet werde, sei das Vorgehen von Rettungskräften eine vertrauensvolle Umgebung zu schaffen und nach dem Prinzip des „talk them down“ auf die suizidale Person einzugehen. Durch Kommunikation versuche man, dass die suizidale Person das „Vorhaben von sich aus beiseitelegt“. Auf die kritische Nachfrage von Prof. Feltes, ob sie bei diesem Einsatz nicht auch die Möglichkeit eines „talk him down“ gehabt hätten, entgegnet die Zeugin B. lediglich, sie seien „ja am Patienten nicht dran“ gewesen – ohne in Frage zu stellen ob das nicht hätte geändert werden können.

Keine Kommunikation zwischen Polizei und Rettungskräften vor Ort

Der Eindruck einer bewusst unkritischen Bewertung des polizeilichen als auch eigenen (untätigen) Vorgehens verschärft sich bei den Aussagen des Zeugen Dominik G. rund um die Frage, ob sie als Rettungskräfte die Möglichkeit gehabt hätten geschultes Personal, wie Psychotherapeut*innen, hinzuzuziehen. Laut Richtlinien können sie diese über die Leitstelle anfragen. Das habe er bisher noch nie in einem Einsatz getan, wie auch bei diesem nicht. Er argumentiert sie hätten es nicht gemacht „weil der Verlauf unklar war„.

Die Richtlinien zum Selbstschutz von Rettungskräften bei einem Einsatz geben vor, dass diese sich mit der Polizei über die Lageeinschätzung und das weitere Vorgehen abstimmen. Das ist nach Aussagen der Zeug*innen zu keinem Zeitpunkt während des Einsatzes geschehen. Sie hätten Sichtkontakt gehabt, aber es fand keine direkte Kommunikation bis nach den Schüssen statt. Der Zeuge G. rechtfertigt das abwartende, passive Verhalten damit, dass sie nicht wussten „was vorherrscht“ und sie können sich „ja nicht in Gefahr bringen“. Auch hier bedient er das Narrativ Mouhamed sei eine Gefahr für die Einsatzkräfte gewesen und legitimiert somit das Vorgehen beim Einsatz.

Prof. Feltes resümiert, dass aufgrund der fehlenden Kommunikation zwischen Polizei und Rettungssanitätern keine gemeinsame Lagebewertung sowie Analyse der Situation möglich gewesen sei.

Wissen über Umgang mit suizidalen Personen und Verhalten beim Einsatz werfen Fragen auf

Auch als die Nebenklage Fragen zu dem Wissen der Zeug*innen zum Umgang mit suizidalen Personen aus ihrer Berufserfahrung als auch Ausbildung stellt, entsteht ein widersprüchlicher Eindruck zwischen ihren Vorgaben und dem Einsatzgeschehen am 08.08.2022.

Laut Fachliteratur handelt es sich bei ca. 10 % der Einsätze von Rettungskräften um suizidale Personen. Jedoch erwecken die Aussagen der Zeug*innen den Eindruck, dass sie entgegen der hohen Anzahl an Fälle in der Praxis nicht adäquat dafür ausgebildet werden. Rettungssanis würden nicht für ein „talk them down“ ausgebildet werden, Notfallsanis lernen das in ihren Praktika und bei Notärzten „komme es drauf an“ – unklar, was das bedeutet. Die unterschiedlichen Stufen von Suizid – Suizididee, Suizidgeste und Suizidversuch, seien manchen der Befragten geläufig. Doch fanden diese bei Mouhamed keine Anwendung, da sie keinen Kontakt zu ihm hatten, bis eine notärztliche Versorgung notwendig wurde.

Im Nachklang erwecken die Aussagen der Zeug*innen den Eindruck einer starken „Blaufreundschaft“ zu den Polizist*innen. Keine Infragestellung des einsatztaktischen Vorgehens wurde ersichtlich. Eher im Gegenteil – in ihren Aussagen bedienten sie die Narrative der Polizei über den Einsatz.

Am Mittwoch, den 17. April, geht es ab 9:30 weiter mit den ersten Einlassungen der Angeklagten.

Radio Nordpol – Beitrag zum 9. Prozesstag

Zum 9. Verhandlungstag hat das Radio Nordpol mit der Anwältin der Nebenklage Lisa Grüter, Britta Rabe vom Grundrechtekomitee und dem Solidaritätskreis Justice4Mouhamed gesprochen. Darüber hinaus geht es um die aktuelle Statistik von TOPA. Wir schauen polizeikritisch auf den Umgang der Cops mit Menschen in psychischen und psychosozialen Krisen und wie Alternativen zum Polizeinotruf aussehen können.

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Danke an das Radio Nordpol Team!

Bericht vom 9. Prozesstag – 20.03.2024

  1. Prozesstag in Kürze:
  • Vernehmung des letzten beteiligten Polizeizeugens: Christon S. (33) gehörte zur Vierergruppe der Zivilbeamten vor Ort. – Seine Aussage ähnelt inhaltlich allen bisher gehörten Polizeiaussagen. Laut ihm habe es vor dem Einsatz des Pfeffersprays eine Diskussion zwischen der Angeklagten Pia B. und Einsatzleiter Thorsten H. über einen möglichen Einsatz des Tasers gegeben. Daraufhin soll H. die Anordnung das RSG 8 (Pfefferspray) einzusetzen gegeben haben. Auch S. beschreibt die ruhige Auffindesituation Mouhameds, dieser sei „wie gefangen in Gedanken“ gewesen.

  • Wie andere zuvor schildert der Zeuge, sein Kollege Kevin S.F. habe sich „viel zu nah“ an Mouhamed heranbegeben. Man sei jedoch „in erster Instanz nicht davon ausgegangen, dass er uns was wollte“. Da Mouhamed auf ihre Anrufungen nicht reagierte sei die Situation immer bedrohlicher geworden, es sei darum gegangen, „die Maßnahme durchzuziehen“, aus polizeilicher Sicht sei „eine Person mit Messer eine Bedrohung an sich“.
  • S. gibt an, dass aus seiner Erfahrung mit „Messertätern“ der Einsatz von Pfefferspray sinnvoll sei, um eine Selbstverletzung der Person zu verhindern und gleichzeitig eine „Entwaffnung“ erzielen zu können. Damit begründet und legitimiert er auch 1,5 Jahre später noch den Einsatz des Pfeffersprays als „mildestes Mittel“.

  • Der Polizeisprech im Gerichtssaal hinterlässt Fragezeichen: Mehrfach spricht Christon S. davon, Mouhamed sei bei der Erstversorgung „wehrig“ gewesen – gleich zweimal beschreibt er seinen Todeskampf als „Gas geben im RTW“. Richter Kelm greift dies auf, beschreibt Mouhamed gar als „renitent“. Auf Nachfrage ergänzt der Zeuge, dass er „überrascht“ war später von Mouhameds Tod zu erfahren, habe sich dieser doch im RTW und Schockraum noch „agil“ verhalten.

  • Verteidiger Brögeler gibt nach der Befragung eine Prozesserklärung ab und offenbart damit eine mögliche Verteidigungsstrategie: In der Anklageschrift werde von einer statischen Lage gesprochen, die hätte gehalten werden können. Man müsse jedoch mal die „Perspektive wechseln“, Zu Beginn sei es eine solche gewesen, doch hätte diese jederzeit kippen können. Nicht wegen eines Angriffs Mouhameds, sondern dadurch, „dass er sich das Messer in den Bauch rammen könnte“. Das hätte zur Ungewissheit bei den Beamten geführt, ob die statische Lage in eine dynamische umkippt – schließlich wären die Beamt*innen auch verpflichtet gewesen, Mouhamed „helfen zu müssen“.

  • Die Verteidiger von Thorsten H. und Markus B. geben an, am 17.04. eine Einlassung (Stellungnahme der Angeklagten) abzugeben. Die Verteidigung des Schützen Fabian S. will diese abwarten und daraufhin entscheiden, ob sie sich auch äußern wollen.

    Am Mittwoch, den 03. April, geht es ab 9:30 Uhr weiter mit der Befragung der RTW Sanitäter*innen. Wir freuen uns über solidarische Prozessbeobachter*innen (Eingang Hamburger Straße 11) sowie Teilnahme an unserer Mahnwache ab 7:30 vor dem Gericht (Kaiserstraße 34).

Ausführlicher Bericht von 9. Prozesstag:

Zum heutigen Prozesstag findet erneut eine Mahnwache vor dem Landgericht statt und einige solidarische Menschen sind im Saal anwesend. Aufgrund von Verzögerungen bei der Einlasskontrolle beginnt der Prozesstag verspätet um 9:40 Uhr.

Zum heutigen Prozesstermin ist der letzte Polizist als Zeuge geladen, welcher bei dem Einsatz mit vor Ort war. Christon S. (33) war zum damaligen Zeitpunkt als Zivilbeamter mit seiner Einsatzleiterin Sandra K. in einem Zivilwagen in der Nordstadt unterwegs, als sie die Anordnung erhielten zu „Aufklärungszwecken“ in die Holsteinerstraße zu fahren. Vor Ort begleitete er die weiteren Kollegen in Zivil, Kevin S.F. und Max P. in den Innenhof und unternimmt dort die ersten Anrufungsversuche an Mouhamed durch „Hey“- Rufe und Pfiffe.

Sie seien vor Ort gewesen, um Mouhamed zu helfen

Die Aussagen von S. zum Tatgeschehen unterscheiden sich inhaltlich nicht wesentlich von den bisher gehörten Aussagen der anderen Polizeibeamt*innen. Auch er beschreibt die Situation zu Beginn als ruhig. Mouhamed habe abwesend, „wie gefangen in Gedanken“ gewirkt.

Daraufhin bringt S. jedoch ein bisher unbekanntes Detail des Tatgeschehens zur Sprache. Laut ihm habe es vor dem Einsatz des Pfeffersprays eine Diskussion zwischen der Angeklagten Pia B. und Einsatzleiter Thorsten H. über einen möglichen Einsatz des Tasers gegeben. B. habe ein freies Schussfeld gehabt, doch H. wies an das Pfefferspray einzusetzen, „um Verletzungen zu vermeiden„. Bei einer Taserabgabe bestünde, laut S., eine erhöhte Gefahr der unbeabsichtigten Selbstverletzung für Mouhamed, durch das Messer in seiner Hand. Diese Aussage und die Betonung der Bemühungen, um eine Selbstverletzung Mouhameds zu vermeiden reiht sich in das Narrativ ein, welches S. in seiner weiteren Befragung verfolgt – sie seien in erster Linie vor Ort gewesen, um Mouhamed zu helfen. Damit begründet er auch, dass sich sein Kollege Kevin S.F., wie er selbst sagt „viel zu nah“ an Mouhamed heranbegeben habe. Man sei jedoch „in erster Instanz nicht davon ausgegangen, dass er uns was wollte“. Erstmal sei es ihnen darum gegangen Mouhamed aus seinen Gedanken zu reißen und einen Zugang zu ihm zu bekommen. Da dieser auf ihre Anrufungen nicht reagierte habe der Zeuge „immer mehr ein schlechtes Bauchgefühl“ bekommen und die Situation sei bedrohlicher geworden. Denn ihm sei bewusst gewesen, dass Mouhamed noch das Messer in der Hand habe, sie zu nah dran seien und sie „seine Gedanken nicht lesen konnten„. Auf den Einwand des Staatsanwalt Domberts, für ihn klinge das eher wie Ratlosigkeit seitens des Zeugen als nach einer Bedrohung, entgegnete S., es sei darum gegangen,die Maßnahme durchzuziehen. Aus polizeilicher Sicht sei „eine Person mit Messer eine Bedrohung an sich“.

Der Pfeffersprayeinsatz wird als „mildestes Mittel“ legitimiert

S. gibt auf Nachfrage des Verteidigers Bögeler an, dass aus seiner Erfahrung mit „Messertätern“ der Einsatz von Pfefferspray sinnvoll sei, um einerseits eine Selbstverletzung der Person zu verhindern und gleichzeitig eine „Entwaffnung“ erzielen zu können. Denn in seiner Erfahrung haben diese oft die Hände vors Gesicht gehalten um das Pfefferspray abzuwenden und dadurch das Messer fallen gelassen.

Darüber hinaus sei er auch nicht über den Zeitpunkt des Einsatzes von Pfefferspray erstaunt gewesen. Denn man habe jederzeit damit rechnen müssen, dass Mouhamed sich selbst verletzt und deshalb sei Pfefferspray als das „mildeste der vorhandenen Mittel“ geeignet, um eine Person abzulenken oder zu überraschen. Damit begründet und legitimiert er auch 1,5 Jahre später noch den Einsatz des Pfeffersprays als „mildestes Mittel“.

Der Zaun sei überwindbar gewesen für Mouhamed

Der Zeuge unterstreicht das Narrativ der Bedrohungslage für die Polizei mit der Aussage Mouhamed hätte auch über den 1.70m hohen Zaun vor ihm springen können. Er selbst sei bei einem Polizeieinsatz mehrere Jahre zuvor über denselben Zaun gesprungen, das sei kein Problem. Auf die ungläubige Nachfrage des Richters, Mouhamed hätte das wohl nicht unter fünf Sekunden (in der Zeitspanne nach dem Pfefferspray und vor dem Tasereinsatz und den Schüssen) geschafft, entgegnete der Zeuge: „bin ich auch schon„.

Der Polizeisprech im Gerichtssaal hinterlässt Fragezeichen: Mehrfach spricht Christon S. davon, Mouhamed seibei der Erstversorgung „wehrig“ gewesen – gleich zweimal beschreibt er seinen Todeskampf alsGas geben im RTW. Richter Kelm greift dies auf, beschreibt Mouhamed gar als „renitent“. Auf Nachfrage ergänzt der Zeuge, dass er „überrascht“ war später von Mouhameds Tod zu erfahren, habe sich dieser doch im RTW und Schockraum noch „agil“ verhalten.

Prozesserklärung durch Verteidiger Brögeler

Verteidiger Brögeler gibt nach der Befragung eine Prozesserklärung ab und offenbart damit eine mögliche Verteidigungsstrategie: In der Anklageschrift werde von einer statischen Lage gesprochen, die hätte gehalten werden können. Man müsse jedoch mal die „Perspektive wechseln„. Zu Beginn sei es eine solche gewesen, doch hätte diese jederzeit kippen können. Nicht wegen eines Angriffs Mouhameds auf die Polizei, sondern dadurch, „dass er sich das Messer in den Bauch rammen könnte„. Das hätte zur Ungewissheit bei den Beamten geführt, ob die statische Lage in eine dynamische umkippt – schließlich wären die Beamt*innen auch verpflichtet gewesen Mouhamed „helfen zu müssen“.

Der nächste Prozesstermin ist am 03.04. um 9:30 Uhr (Eingang Hamburger Straße 11). Wir werden ab 7:30 Uhr mit einer Mahnwache vor dem Landgericht solidarisch unterstützen. Es werden die ersten Sanitäter*innen des RTWs aussagen.

Bericht vom 8. Prozesstag – 13.03.2024

Der 8. Prozesstag in Kürze:

Im folgenden Bericht werden Aspekte der Tat und Rassismus im Gericht benannt.

• Vernehmung weiterer Polizeizeug*innen: Kommissaranwärter*innen Lea B. (24) und Luca P. (22 Jahre). Für beide handelte es sich beim Einsatz gegen Mouhamed um einen ihrer ersten Einsätze der Ausbildung. Die Erinnerungen scheinen lückenhaft, zumindest an den entscheidenden Stellen. Herr P. sträubt sich unter Berufung auf seine kurze Berufserfahrung immer wieder dagegen, Einschätzungen zum Einsatz zu geben, verwickelt sich in Widersprüche – in seiner Befragung stellt sich heraus: Sein Vater, mit dem er ebenfalls „viel“ über den Einsatz sprach, ist Hundertschaftsführer bei der Dortmunder Polizei.
• P. bestätigt, dass Einsatzleiter Thorsten H. bei der Einsatzbesprechung alle Zwangsmittel anordnete und den Angeklagten zuwies. P. wies er an, einen Einsatzmehrzweckstock (Schlagstock) mitzunehmen – welcher aber nicht zum Einsatz kam.
• B. berichtet, dass die Angeklagte Jeanine Denise B. nur Sekunden, nachdem die Beamtinnen an ihrer Position in der Missundestraße ankamen, das Pfefferspray in Mouhameds Richtung entleerte.
• Im Gegensatz zum Polizisten Hassan A.R. am 7. Verhandlungstag ist P. sich sicher, dass das Pfefferspray Mouhamed erreichte, dieser „nass“ davon wurde. Er macht Angaben zu Mouhameds Lauf und der Haltung des Küchenmessers, wozu er noch in der Vernehmung kurz nach der Tat angab, nichts zu wissen.
• Zu den Schüssen sagt Luca P., er habe, als die Situation dynamisch wurde, „sich auf andere Kollegen verlassen“ und damit gerechnet, dass einer von ihnen schießen würde. Trotz seiner bis dahin kurzen Ausbildungszeit war auch er mit Pistole bewaffnet.
• Kommunikation über den Einsatz innerhalb der Dienstgruppe wird verlesen: In zwei Sprachnachrichten sagt die Angeklagte Pia B. kurz nach der Tat: „Aber man hätte ein paar Sachen anders machen können. Weiß nicht, ob er anders reagiert hätte. (…) Aber hätten wir das nicht eher statisch halten können?“ und: „Man muss am Ende hinterfragen: Hätte man das nicht statisch halten oder eine andere Taktik wählen können? Aber es macht sich keiner Sorgen, dass da die Rechtmäßigkeit in Frage gestellt wird.“ (Mitschrift aus dem Gerichtssaal)
• Widersprüche ergeben sich als nachgeharkt wird: Offensichtlich wurde viel innerhalb der Wache Nord über den Vorfall gesprochen, wie die Zeug*innen zu behaupten versuchen, jedoch nicht „inhaltlich“ oder „einsatztaktisch“ sondern nur zwecks emotionalem Support untereinander.
• Für die eingesetzten Beamt*innen wurde noch am selben Tag des Einsatzes ein PSU-Team (psychosoziale Unterstützung) angefordert.
• Zu seiner Ausbildung gibt Luca P. auf Nachfrage an, dass zum Thema psychischer Krankheiten theoretisch informiert, aber kein praktischer Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen gelehrt wurde.

Ausführlicher Bericht vom
8. Prozesstag:

Im folgenden Bericht werden Aspekte der Tat und Rassismus im Gericht benannt.

Zum heutigen Prozesstag findet erneut eine Mahnwache vor dem Landgericht statt und viele solidarische Menschen sind im Saal anwesend. Obwohl der Einlass mittlerweile schon gegen 8:15 beginnt, verzögert sich der Prozessstart durch intensive Einlasskontrollen auch weiterhin.
Heute wird mit der Vernehmung zweier weiterer Polizeizeug*innen im Prozess fortgefahren: den Kommissaranwärter*innen Lea B. (24 Jahre) und Luca P. (22 Jahre). Für beide handelte es sich beim Einsatz gegen Mouhamed um einen der ersten Praktikumseinsätze ihrer Polizeiausbildung. Die Erinnerungen beider sind eher lückenhaft. Richter Kelm reagiert auf die Erinnerungslücken verständnisvoll, indem er die Aufregung der Kommissaranwärter*innen betont. Wie auch bei vorherigen Polizeizeug*innen zeigt sich auch hier die unterschiedliche Behandlung von „Berufs“- und zivilen Zeug*innen.

Lea B. war am Einsatztag den Angeklagten Jeanine-Denise B. und Markus B. zugeteilt, kam mit ihnen im Streifenwagen am Einsatzort an und rannte nach der Einsatzbesprechung mit ihnen auf Position in die Missundestraße. Luca P. war den Angeklagten Fabian S. und Pia Katharina B. zugeteilt und befand sich mit ihnen im Innenhof. Polizist P. bestätigt, dass Einsatzleiter Thorsten H. alle später verwendeten Zwangsmittel anordnete und den Angeklagten zuwies. Herrn P. wies er an, einen Einsatzmehrzweckstock mitzunehmen – ein Mittel, das dann aber nicht zum Einsatz kam. Auf Nachfrage von Richter Kelm sagt Luca P. aus, dass keine Zweifel oder Einwände zum Einsatzplan oder den verwendeten Mitteln geäußert worden seien.

Lea B. berichtet, dass nur Sekunden, nachdem sie mit den beiden Angeklagten in der Missundestraße ankam, die Angeklagte Jeanine-Denise B. das Pfefferspray in Mouhameds Richtung entleerte. Im Gegensatz zur Aussage des Polizisten Hassan A.R. ist sich Luca P. sicher, dass das Pfefferspray Mouhamed erreichte und dieser davon „nass“ wurde. Er macht Angaben zu Mouhameds Lauf und der Haltung des Küchenmessers, wozu er aber in der Vernehmung kurz nach der Tat angab, nichts zu wissen.

Zu den Schüssen sagt Luca P., er habe sich, als die Situation dynamisch wurde, „auf andere Kollegen verlassen“ und damit gerechnet, dass eine*r von ihnen schießen würde. Die Befehle, die Einsatzleiter Thorsten H. im Moment der Fixierung rief, seien ausschließlich auf Deutsch und Englisch erfolgt – beides Sprachen, die Mouhamed bekanntermaßen nicht verstand.

Interne Kommunikation der Angeklagten nach dem Einsatz wird öffentlich

Lange bleibt in der Befragung unklar, ob es im Nachhinein Gespräche über Einsatz und Einsatztaktik innerhalb der Dienstgruppe gegeben hat. Die Nebenklage zweifelt daran, dass es, insbesondere auch mit den Anwärter*innen, keinerlei Gespräch darüber gegeben haben soll. Die Zeug*innen antworten ausweichend. Dann wird durch eine Vorhaltung der Nebenklage klar, dass es innerhalb einer Chatgruppe zwei Sprachnachrichten der Angeklagten Pia Katharina B. gab, in denen diese Zweifel an der Einsatztaktik, die sie hegt, den Kolleg*innen gegenüber äußert: „Aber man hätte ein paar Sachen anders machen können. Weiß nicht, ob er anders reagiert hätte. Der war psycho, keine Frage. Aber hätten wir das nicht eher statisch halten können?“ und: „Man muss am Ende hinterfragen: Hätte man das nicht statisch halten oder eine andere Taktik wählen können? Aber es macht sich keiner Sorgen, dass da die Rechtmäßigkeit in Frage gestellt wird.“ (Mitschrift aus dem Gerichtssaal)

Für die eingesetzten Beamt*innen wurde noch am Tag des Einsatzes ein PSU-Team (psychosoziale Unterstützung) angefordert.
Zu seiner Ausbildung sagt Herr P. auf Nachfrage, dass zum Thema psychische Krankheit zwar theoretisch informiert, aber kein praktischer Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen gelehrt wurde.

Rassistische Normen im Gerichtssaal

Schon bei vorherigen Aussagen wurde die mangelnde Deutschkenntnis von Zeug*innen zu deren Verunglaubwürdigung genutzt und immer wieder Personenbeschreibungen verwendet, die das Schwarzsein von Personen markieren, während die Hautfarbe weißer Menschen unmarkierte Norm bleibt. Auch heute sagt Luca P. zum Anblick der Schusswunden von Mouhamed, dass diese „quasi hautfarben“ aussahen. Damit meint er wohl nicht die Hautfarbe von Mouhamed, sondern die rosa Farbe von offenem Gewebe.
Normal ist im Gerichtssaal auch ein entpersonalisiertes Sprechen über die Tat. Heute etwa fällt erst mitten in der Befragung durch Prof. Feltes zum ersten Mal an diesem Prozesstag der Name Mouhamed, sonst wird über „den Geschädigten“ oder „den Betroffenen“ gesprochen. Auf die Simultan-Dolmetschung für die beiden Brüder Sidy und Lassana Dramé wird von Seiten der Kammer keine Rücksicht genommen.

Am Mittwoch, den 20. März, geht es ab 9:30 weiter mit der Befragung weiterer Polizeizeugen.
Wir freuen uns über solidarische Prozessbeobachter*innen sowie Teilnahme an unserer Mahnwache ab 7:30 vor dem Gericht (Kaiserstraße 34).

Radio Nordpol – Beitrag zum 8. Prozesstag

In diesem Beitrag spricht das Radio Nordpol mit Britta Rabe vom Grundrechte Komitee und mit Menschen von BackUp über den 8. Prozesstag, über Polizeigewalt in den letzten Jahren und die Auswirkungen von rassistischer Polizeigewalt bei der Wache Nord. Die Sendung wird mit einem kleinen Beitrag von Defund the Police Dortmund abgeschlossen, die nicht nur einen Einblick über die Wache Nord der letzten Jahre gibt, sondern auch über die aktuell geplanten Veränderungen der Wache Mord aufklärt.

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Tausend dank an das Radio Nordpol Team!

Radio Nordpol – Beitrag zum 7. Prozesstag

Für die Dokumentation und Einschätzung des siebten Prozesstages hat das Radio Nordpol Team mit der Anwältin der Nebenklage Lisa Grüter, Alex vom Solidaritätskreis Justice4Mouhamed, einem freien Journalisten, NSU Watch und dem Grundrechtkomitee gesprochen. Darüber hinaus kommen erstmals die Brüder von Mouhamed, Sidy und Lassana Dramé zu Wort und berichten, wie sie den Prozess in Dortmund erleben.

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Bericht vom 7. Prozesstag – 06.03.2024

Der 7. Prozesstag in Kürze:

  • Vernehmung zwei weiterer Polizeizeug*innen: Es bestätigt sich, dass kein Waffeneinsatz (Pfefferspray, Taser, MP5) gegen Mouhamed angedroht wurde.
  • Hassan A.R. (damals Beamter der uniformierten Dienstgruppe) will sich heute erinnern können, wie Mouhamed das Messer beim Laufen hielt, führt dies lebhaft im Saal vor. In seiner polizeilichen Vernehmung kurz nach der Tat gab er noch an, hierzu nichts zu wissen. Weiter behauptet er, sein Weggang aus der Wache Nord nach dem 8. August 2022 habe nichts mit dem Einsatz zu tun – Chatnachrichten kurz nach der Tat belegen das Gegenteil.
  • Hassan A.R. verteidigt vor Gericht vehement den Einsatz von Schusswaffen in „Messerlagen“ und sagt: “Hätte [Fabian S.] nicht geschossen, hätte ich geschossen.” Alle bisherigen Polizei-Zeug*innen scheinen weiterhin überzeugt, dass ihr Handeln richtig war. Der Zeuge beschreibt die Einsatzlogik folgendermaßen: „Eigen- und Fremdgefährdung neutralisieren“.
    Dies zeigt: Es muss nicht nur darum gehen, ob die Polizei legal gehandelt hat, sondern vielmehr auch, Polizeitaktiken und -ausbildung zu hinterfragen.
  • Wieder wird berichtet, dass Mouhamed, getroffen von den Schüssen, vom Einsatzleiter H. mit dem Fuß fixiert, gefesselt und “weggezogen” wurde, um das Messer zu finden – erst danach sei er versorgt worden.
  • Dass Mouhamed nach den Schüssen versuchte, die Arme unter seinen Körper zu bewegen, wird als „bedrohlicher“ Versuch dargestellt, aufzustehen oder das Messer zu greifen – auf Rückfrage kann selbst A.R nicht ausschließen, dass Mouhamed hingegen vor Schmerzen Richtung Unterbauch und Schritt fasste, wo er vom Taser und Schüssen getroffen wurden.
  • Die Polizistin Sandra K., Leiterin der zivilen Sondereinheit der Wache Nord, hat noch am Tattag um 18:22, eine „umfangreiche Anzeige“ (StA Dombert) wegen Bedrohung gegen Mouhamed aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt war er nachweislich bereits verstorben.
    Sie berichtet, dies mit dem Einsatzleiter Thorsten H. sowie der Kripo Recklinghausen
    abgesprochen zu haben. In der Befragung entstehen Unklarheiten bzgl. vier verschiedener Versionen der Anzeige im Polizeicomputer.
  • Umgang mit Familie Dramé: Nachdem die Anwesenheit der Brüder Sidy und Lassana bisher in keiner Weise gewürdigt wurde, steht auch nicht zur Debatte, den Prozess zu pausieren, als erst Sidy und später auch Lassana, mit Tränen in den Augen den Saal verlassen. Eine Begleitung aus dem Publikum darf nicht mitgehen, sondern muss durch den Besucher*inneneingang ums gesamte Gebäude laufen, um ihnen beizustehen. Beim Hustenanfall einer Schöffin hingegen wird der gesamte Prozess einige Minuten pausiert.

Ausführlicher Bericht vom
7. Prozesstag:

Im folgenden Bericht werden Aspekte der Tat beschrieben.

Heute werden zwei weitere Polizeizeug*innen befragt: Der in der Nordstadt eingesetzte Polizist Hassan A.R. (31 Jahre) sowie Sandra K. (47 Jahre), Leiterin der zivilen Einsatztruppe in der Dortmunder Nordstadt. Beide waren am Einsatz am 8. August 2022 gegen Mouhamed Lamine Dramé beteiligt. Sie sind nahe Kolleg*innen der Einheit von Einsatzleiter Thorsten H. auf der Wache Nord.

Aussagen teils widersprüchlich

Der erste Zeuge des Tages, Herr A.R., bestätigt noch einmal, dass den Einsatzkräften sowohl die Information über eine potentielle suizidale Situation, Mouhameds Alter als auch seine Sprachkenntnisse bekannt waren. Er bestätigt auch, dass kein Waffeneinsatz (Pfeffer, Taser, MP5) gegen Mouhamed angedroht wurde.
A.R. scheint sich, im Gegensatz zu allen bisher gehörten Aussagen, sicher zu sein, dass Mouhamed die Situation um sich herum mitbekam, macht dies daran fest, dass er gesehen haben will, wie Mouhamed das gegen sich gerichtete Messer zwei- bis dreimal aus der Hand zu fallen drohte, er dieses dann aber wieder fester gegriffen haben soll. Außerdem besteht der Zeuge darauf, dass das erste angewendete Zwangsmittel, eine Flasche Pfefferspray, Mouhamed nicht direkt getroffen haben soll – sondern sich nieselnd etwas links neben ihm ergoss. Andere Unstimmigkeiten in seiner Aussage fallen auf: A.R. will sich heute erinnern können, wie Mouhamed das Messer beim Laufen hielt, führt dies im Saal vor. In seiner polizeilichen Vernehmung kurz nach der Tat gab er noch an, hierzu nichts zu wissen. Weiter behauptet er, sein Weggang aus der Wache Nord nach dem 8. August 2022 habe nichts mit dem Einsatz am 8. August zu tun – ihm von der Nebenklage vorgehaltene Chatnachrichten von ihm unter seinem Spitznamen „Apache“ an seine Kolleg*innen kurz nach der Tat belegen das Gegenteil.

Noch immer von Einsatztaktik überzeugt

Zur Frage nach der Anwendung von Zwangsmitteln im Einsatz sagt A.R. aus, dass es nicht notwendig sei, im Einsatz noch einen Befehl durch den Einsatzleiter abzuwarten – in “für Leib und Leben” bedrohlichen Situationen obliege es der Einschätzung der einzelnen Beamt*in, ein Zwangsmittel einzsuetzen. Dies gelte auch für die MP5, von der seit Juli 2018 in NRW jeweils zwei in jedem Funkstreifenwagen der Polizei mitgeführt werden[i], sofern die Einsatzleitung die Mitnahme zu einem Einsatzort angeordnet hat.
A.R. verteidigt in seiner Aussage außerdem vehement den Einsatz von Schusswaffen in „Messerlagen“ und sagt: “Hätte [Fabian S.] nicht geschossen, hätte ich geschossen.” Wie alle anderen bisherigen Polizeizeug*innen vertritt auch er weiterhin überzeugt, dass ihr Handeln gegenüber Mouhamed richtig und alternativlos gewesen sei.
Den Einsatz von Tasern betrachtet A.R. explizit als kein angebrachtes Mittel in “Messerlagen”. Auf Rückfragen fällt es ihm allerdings schwer, eine “Messerlage” zu definieren. Auch zur Frage nach den Richtlinien und Bestimmungen zum Einsatz von Tasern kann er nicht antworten.
Zur Frage, warum die Bodycams der Beamt*innen beim Einsatz nicht eingeschaltet waren, antwortet A.R., dass dies bei Einsätzen, die psychisch kranke Personen involvieren, ebenso wie in Privaträumen nicht zulässig sei. Auf Rückfrage der Nebenklage, ob er für eine solche Einschätzung qualifiziert sei, kann er nicht antworten.
Herr A.R. bestätigt dann auch, dass Mouhamed, getroffen von den Schüssen, vom Einsatzleiter H. mit einem Fuß fixiert, gefesselt und “weggezogen” wurde, um das Messer zu finden.

Dass Mouhamed sich nach den Schüssen am Boden bewegte und versuchte, die Arme unter seinen Körper zu ziehen, wird als „bedrohlicher“ Versuch dargestellt, aufzustehen oder nach dem Messer zu greifen – auf Rückfrage kann A.R aber nicht ausschließen, dass Mouhamed sich hingegen vor Schmerzen wand und versuchte, Richtung Unterbauch und Schritt zu fassen, wo er kurz zuvor von Taser und Schüssen getroffen wurde.

Die Polizistin Sandra K., Leiterin der zivilen Sondereinheit der Wache Nord, hat noch am Tattag um 18:22 eine „umfangreiche Anzeige“ (StA Dombert) wegen Bedrohung gegen Mouhamed aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt war Mouhamed nachweislich bereits verstorben. Dies war Sandra K. bei Abschluss der Anzeige auch bekannt. Die Anzeige soll dann der Informierung der Polizei Recklinghausen gedient haben, die ab da standardmäßig eine Ermittlung aufnahm.

Weiterhin geht die Kammer mit Polizeizeug*innen sichtlich anders um als mit den vorherigen zivilen Zeug*innen – die Fragen ähneln oft eher einer gemeinsamen Abstimmung als einer Überprüfung ihrer Glaubwürdigkeit. Eine Antwort von Sandra K. zur Position auf Lichtbildern beantwortet Richter Kelm etwa mit: „Richtig!“.

Anwesenheit der Familie als Nebenklage geringgeschätzt

Der Umgang der Kammer mit der Familie Dramé sowie ihren rechtlichen Vertreter*innen RA Grüter und Prof. Feltes ist weiterhin von Respektlosigkeit geprägt. Nachdem die Anwesenheit der Brüder Sidy und Lassana Dramé bisher in keiner Weise gewürdigt wurde, steht auch nicht zur Debatte, den Prozess zu pausieren, als erst Sidy und später auch Lassana mit Tränen in den Augen den Saal verlassen. Eine Begleitung aus dem Publikum darf nicht mitgehen, sondern muss durch den Besuchereingang ums gesamte Gebäude laufen, um ihnen beizustehen. Beim Hustenanfall einer Schöffin hingegen wird der gesamte Prozess einige Minuten pausiert.

Am Mittwoch, den 13. März, geht es ab 9:30 weiter mit der Befragung weiterer Polizeizeugen.

Wir freuen uns über solidarische Prozessbeobachter*innen sowie Teilnahme an unserer Mahnwache ab 7:30 vor dem Gericht (Kaiserstraße 34).


[i]https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/maschinenpistolen-polizei-nrw-100.html

Bericht vom 6. Prozesstag – 28.02.2024

Der 6. Prozesstag in Kürze:

Im folgenden Text werden Aspekte der Tat konkret beschrieben.

  • Erste Befragungen von Polizisten, zwei Angehörigen der Sondereinheit in der Nordwache, die überwiegend verdeckt/zivil in der Nordstadt eingesetzt sind. Die beiden waren am 8.8.22 zuerst am Einsatzort und sprachen Mouhamed an.
  • Aussageverhalten polizeilicher Zeug*innen ist merklich anders als das bisher gehörter ziviler Zeug*innen. Während die zivilen Zeug*innen weitere empathische Perspektiven auf die Tat und teils eigene Betroffenheiten widerspiegelten, führen die Polizist*innen polizeiliches Sprechen und Denken vor.
  • Beispiele: Freier Bericht zu Beginn wirkt wie auswendig gelernt, spätere Detailfragen werden hingegen teils ausweichend beantwortet – meistgenutztes Wort dabei: „Negativ.“ Auch die Kammer verhält sich – gemäß dem Dogma „polizeilicher Berufszeugen“ – Beamten gegenüber völlig anders, es gibt keine Versuche der Verunglaubwürdigung oder Verunsicherung, ungenaue Aussagen werden als Schätzfehler akzeptiert.
  • In den Aussagen wird wieder deutlich: Mouhamed wirkte teilnahmslos, reagierte nicht auf Ansprache, wurde selbst von den Zivis in erster Linie als Bedrohung für sich selbst wahrgenommen.
  • Weder die Zivilpolizisten noch die Uniformierten gaben sich als Beamte zu erkennen, der Einsatz von Waffen ist laut Aussagen nicht – zumal nicht in einer Mouhamed verständlichen Sprache – angedroht worden.
  • Erst durch den Pfeffersprayeinsatz wurde die ruhige Lage umgehend dynamisch.
  • Die sog. „7-Meter-Regel“ aus der Polizeiausbildung kommt zur Sprache: Bei Unterschreitung von 7m in einer „Messerlage“ sei die Schusswaffe „die Option“. Auch 1,5 Jahre später fallen den befragten Beamt*innen keine anderen Handlungsmöglichkeiten ein.
  • Polizei unterschritt diese Regel, widerspricht sich dabei in der propagierten „Gefahrenlage“: Der Zivilpolizist Kevin S. ging bei seiner Ansprache – ähnlich wie zuvor die Mitarbeitenden der Einrichtung – auf nur etwa eineinhalb Meter Abstand zu Mouhamed in die Hocke, musste vor dem Pfeffersprayeinsatz erst aus dem Wirkungsbereich zurückbeordert werden.
  • Leiter der Dienstgruppe auf der Nordwache und Einsatzleiter am 08.08.22 Thorsten H. hat ebenfalls mit seiner Dienstwaffe auf Mouhamed gezielt, während er Einsatzbefehle verteilte.
  • Die Aufstellung der Polizist*innen positionierte Mouhamed in einer Sackgasse.
  • Polizeiliche Einsatzlogik, die sprachlos macht: Nach den Schüssen, als sich Mouhamed unter Schmerzen auf dem Boden wand, wurde er mit Knien auf seinen Schultern fixiert und noch mit Handschellen gefesselt. Polizeilicher Fokus weiterhin: Die Suche nach dem Messer. Mouhamed wurde zu diesem Zweck sogar angehoben und mindestens einige Meter weggetragen.
  • Der Zivilpolizist Max P. resümiert den Einsatz folgendermaßen: „Letztendlich wurde die Gefahr abgewehrt – keine anderen Personen kamen zu Schaden. […] Der Einsatz ist abgearbeitet worden, wie er abgearbeitet werden konnte“ – und das, wo doch seine Kolleg*innen den Jugendlichen tödlich verletzten.
  • Nach dem Einsatz sei allen beteiligten Polizist*innen „unwohl“ gewesen, gesprochen hätten alle miteinander über den Vorfall – mit wem und über was, konnten oder wollten die Zeugen jedoch nicht erinnern. Nachfragen von Staatsanwaltschaft und Nebenklage thematisieren Whatsappkommunikationen untereinander, diese scheinen noch prozessrelevant werden zu können.
  • Beschwerden wirken: Richter Kelm zeigt erstmals Lichtbilder auf dem Bildschirm, sodass alle Prozessbeteiligten, Presse und Zuschauer*innen das Geschehen mitverfolgen können.

Ausführlicher Bericht vom
6. Prozesstag:

Im folgenden Text werden Aspekte der Tat konkret beschrieben.

Wir waren am 28. Februar wieder mit vielen solidarischen Begleiter*innen ab 7:30 mit einer Mahnwache und in der Warteschlange vorm Eingang zum Gerichtssaal präsent.

Heute wurden die ersten beiden am Einsatz beteiligten Polizisten befragt, die beiden nicht angeklagten Zivilpolizisten der Wache Nord, die am 8. August 2022 zuerst den Einsatzort betraten. Herr P. (30 Jahre) und Herr S. (31 Jahre) arbeiten beide seit 2020 im Einsatztrupp Nord der Wache Nord, und sind hauptsächlich zu zweit in Zivil im Bereich des Nordmarkts eingesetzt und dort häufig mit Fahrrädern und Skateboard „zur Bekämpfung der örtlichen Drogenumschlagkriminalität“ vor Ort.

Umgang mit Polizeizeugen unterscheidet sich fundamental von dem mit zivilen Zeug*innen

Während beider Befragungen fällt auf: Das Aussageverhalten der Polizisten ist völlig anders als das der bisher gehörten zivilen Zeugen – der freie Bericht zu Beginn der Aussage wirkt wie auswendig gelernt, sodass selbst der Richter ihn als „strukturiert“ kommentiert und wiederholt nachgefragt wird, ob beide Zeugen ihre Erstaussagen noch einmal studiert hätten. Spätere Detailfragen wiederum werden teils ausweichend beantwortet. Auch die Kammer verhält sich – gemäß dem Dogma von „Berufszeugen“ – den Polizeizeugen gegenüber völlig anders als den zivilen Zeug*innen, es gibt keine Versuche der Verunglaubwürdigung oder Verunsicherung, ungenaue Aussagen werden als Schätzfehler akzeptiert.

Erstmals Einblick in Lichtbilder

Nach Beschwerden der Presse zeigt Richter Kelm heute erstmals Lichtbilder aus der Akte auf dem großen Bildschirm im Saal, sodass alle Prozessbeteiligten, Presse und Zuschauer*innen das Geschehen mitverfolgen können. Bilder des Tatorts werden gezeigt, auf denen beide Zeugen die Position der Personen vor Ort anzeigen, außerdem Bilder des eingesetzten RSG8 (Pfefferspray), des Distanzelektroimpulsgeräts DEIG (Taser) sowie der Maschinenpistole MP5.
Die Nebenklage fordert darüber hinaus wiederholt die Verwendung der vom LKA angefertigten 3D-Bilder, Verteidiger Brögeler schießt weiter dagegen.

Schnelle Eskalation in dynamische Situation

In den Aussagen der beiden Zeugen wird noch einmal klar: Mouhamed wirkte teilnahmslos, reagierte nicht auf Ansprachen. Auf die Frage, ob Mouhamed zum Zeitpunkt der Ansprache auf den Polizisten S. bedrohlich wirkte, antwortet dieser: „Bedrohlich für sich selbst“ – und ergänzt schnell: „und für uns, weil wir auch in der Situation waren.“
Auch bestätigen beide Zeugen, sich nicht als Beamte zu erkennen gegeben zu haben, denn sie haben „oft die Erfahrung gemacht, dass Personen nicht positiv auf die Polizei reagieren“. Es sei durch Herrn S., in zivil gekleidet, eine Ansprache in Dauer weniger Minuten auf Spanisch erfolgt.

Die Aufstellung der Polizist*innen positionierte Mouhamed in einer Sackgasse.
Der anschließende Einsatz von Zwangsmitteln durch die Beamten in Uniform ist laut beider Aussagen nicht – zumal nicht in einer Mouhamed verständlichen Sprache – angekündigt oder angedroht worden.
Erst durch den Pfeffersprayeinsatz wurde die ruhige Lage laut Aussage umgehend dynamisch. Warum in dieser Situation überhaupt Pfefferspray eingesetzt wurde, habe der Zeuge S. nicht verstanden, sich dabei aber auch nichts weiter gedacht und dies auch nicht hinterfragt.
Der Zeuge P. argumentiert, eine Dringlichkeit zu handeln habe sich aus der Selbstgefährdung von Mouhamed ergeben: „Man kann ja nicht dabei zusehen, wie sich jemand suizidiert.“ Faktoren wie die Dauer, über die Mouhamed sich schon in dieser Lage befand, oder seine Reglosigkeit über den gesamten beobachteten Zeitraum hinweg scheinen für diese Einschätzung allerdings nicht in Betracht gezogen worden zu sein.

Einsatz der Schusswaffe

Es kommt die 7-Meter-Regel aus der Polizeiausbildung zur Sprache, nach der Beamte sich „Messertätern“ nicht weiter als sieben Meter näher sollen. Unterschreite eine angreifende Person diese, sei die Schusswaffe „die Option“. Hier handelte es sich aber gar nicht um einen Messerangriff – dass keine Fremdgefährdung bestand, unterstreicht auch, dass nur wenige Minuten vor den Schüssen der Zivilpolizist S. – ähnlich wie zuvor die Mitarbeitenden der Einrichtung – auf nur etwa eineinhalb Meter Abstand zu Mouhamed in die Hocke ging.

Bei der Richtlinie gäbe es keine vorgegebene Schusszahl, es ginge um „Wirkungstreffer“. Inwiefern die fünf Schüsse hier verhältnismäßig waren, und ob statt den Schüssen auch Distanz zu Mouhamed hätte aufgebaut werden können, bleibt ungeklärt.
Nach den Schüssen sei Mouhamed nach vorn gefallen, dann noch gefesselt worden, wobei Einsatzleiter H. Mouhameds rechte Schulter mit seinem Knie fixiert haben soll. Beim Fesseln habe es „Probleme“ gegeben, da Mouhamed sich unkoordiniert bewegt hätte, was der Polizist P. als Widerstandshandlung beschreibt. Auf Rückfrage des Staatsanwalts Carsten Dombert könne es sich dabei aber auch um ein Winden vor Schmerzen gehandelt haben.

„Für uns war das Hauptproblem, dass wir zu dem Zeitpunkt das Messer noch nicht gefunden hatten.“

Sehr deutlich werden in beiden Aussagen Aspekte polizeiliche Einsatzlogik: So zeigt etwa der Umstand, dass Mouhamed, als er nach den Schüssen am Boden lag, noch gefesselt wurde, dass er auch nach den Schüssen noch als Aggressor betrachtet wurde. Mehrere Polizist*innen suchten derweil weiter nach dem Küchenmesser als „gefährlicher Tatwaffe“, völlig ungeachtet der Lage, dass der vermeintliche „Täter“ zu diesem Zeitpunkt wohl schon im Sterben lag. Herr P. hierzu: „Für uns war das Hauptproblem, dass wir zu dem Zeitpunkt das Messer noch nicht gefunden hatten.“ Mouhamed wurde zwecks Suche nach dem Messer sogar in seinen Fesseln angehoben und mindestens einige Meter weggetragen.
Der Polizist P. resümiert den Einsatz so: „Letztendlich wurde die Gefahr abgewehrt – es ist niemand mit dem Messer verletzt worden“ – nachdem seine Kolleg*innen den Jugendlichen tödlich verletzt hatten.

Nach dem Einsatz sei aber allen beteiligten Polizist*innen „unwohl“ gewesen. Gesprochen hätten alle miteinander über den Vorfall – mit wem und über was, konnten oder wollten die Zeugen jedoch nicht erinnern. Nachfragen von Staatsanwaltschaft und Nebenklage thematisieren Whatsapp-Kommunikation untereinander, diese scheinen noch prozessrelevant werden zu können.

Auch ein Gespräch zwischen Polizeipräsident Gregor Lange, allen am Einsatz Beteiligten und scheinbar weiteren Mitarbeitenden der Wache Nord wenige Tage nach der Tat wird thematisiert. In diesem sei es laut Zeugen nur um die Zusicherung „allgemeiner Unterstützung“ gegangen, an weiteres können sie sich nicht erinnern.

Es geht weiter nächsten Mittwoch, den 6. März, ab 7:30 mit einer Mahnwache vor der Kaiserstraße 34 und um 9:30 mit dem Prozess (Eingang Hamburger Straße 11).