Retraumatisierung von Geflüchteten:Rassistische Polizeigewalt gegen unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Neuss am 08.03.2024

Gemeinsame Pressemeldung von:

  • Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
  • Solidaritätskreis Justice4Mouhamed
  • Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP Berlin)
  • Defund the Police Dortmund
  • Radio Nordpol
  • iFuriosi Düsseldorf
  • Opferberatung Rheinland (OBR) – Beratung für Betroffene rechter, rassistischer, antisemitischer und anderen menschenfeindlicher Gewalt im Rheinland
  • BackUp – Beratung für Betroffene rechtsextremer, rassistischer und antisemitischer Gewalt

Am 8. März 2024 drangen teils vermummte Polizisten in eine Jugendschutzeinrichtung für unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Neuss ein, fesselten einzelne von ihnen und umgingen dabei mehrere rechtsstaatliche Vorgaben. Sie suchten eine Person, die keinen Bezug zu der Jugendeinrichtung hat und nie dort wohnte. Die Jugendlichen wurden nicht über ihre Rechte oder das Vorgehen aufgeklärt. Die Polizei hielt sich alleine in der Wohngruppe auf, ohne dass die Jugendlichen Betreuer*innen oder rechtlichen Beistand hinzuziehen durften. Es wurden auch keine Dolmetscher*innen einbezogen.

Michèle Winkler vom Komitee für Grundrechte und Demokratie kritisiert: „Eine Demokratie bemisst sich immer daran, wie sie mit besonders Schutzbedürftigen umgeht und inwiefern sie Minderheitenrechte ernst nimmt. Dass eine gezogene Waffe und polizeiliche Gewalt gegenüber Kindern die Mittel der Wahl sind, macht schlicht fassungslos.“

Die Polizeigewalt muss vollständig aufgeklärt werden, statt sie als Normalzustand zu akzeptieren. Im Fall der Wohngruppe geht es explizit um Grund- und Menschenrechte. 

Die Psychologin Dr. Larissa Nägler kritisiert die Unverhältnismäßigkeit des Polizeieinsatzes: „Polizeiliches Handeln darf nicht billigend die Unversehrtheit von traumatisierten Minderjährigen aufs Spiel setzen – insbesondere dann nicht, wenn diese bereits von staatlicher Seite aus als besonders vulnerabel bewertet wurden. Dies ist jedoch, in meinen Augen, bei dem Einsatz in der Jugendhilfeeinrichtung in Neuss geschehen.“

Dies betont auch Thomas Klein, der Vormund von zwei der betroffenen Jugendlichen.
„Ich bin entsetzt, dass meine Jugendlichen dieser Situation ausgeliefert wurden, ohne dass Sorgeberechtigte, Betreuerinnen oder sonstige Personen, die ihnen hätten beistehen können, informiert wurden. Spätestens als einer der Betroffenen klar zum Ausdruck brachte, minderjährig zu sein und seine Betreuer anrufen zu wollen, wäre eine andere Reaktion seitens des Staatsorgans zwingend erforderlich gewesen.“

Als Menschenrechtsorganisationen, zivilgesellschaftliche Initiativen und Beratungsstellen für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt verurteilen wir dieses gewaltsame Vorgehen und fordern Aufarbeitung und Konsequenzen. Auch die rechtlichen Vormünder der Jugendlichen erwarten primär von den beteiligten Strafverfolgungsbehörden eine Erklärung. Insgesamt stellt sich die Frage danach, warum Gewaltanwendungen bei nicht-weißen Kindern und Jugendlichen häufig als einzige Einsatzstrategie erkannt werden. Dies sollte dringend auch anhand der Folgen für Individuen und Gesellschaft diskutiert werden: „Ist es noch verhältnismäßig, wenn Kinder und Jugendliche erneut traumatisiert werden?“, wie Dr. Larissa Nägler zusammenfasst.

Wir fordern gemeinsam Aufklärung über den massiven Eingriff in die Menschenrechte von minderjährigen Geflüchteten und diese unverhältnismäßige Polizeigewalt! Wir fordern Transparenz von der Polizei Neuss und dem Jugendhilfeträger!

Ausführliches Statement zu der Pressemitteilung:

www.gegenpolizeigewalt.noblogs.org

Pressekontakt:

corvus23@anche.no

Warum gibt es vor Gericht keine Gerechtigkeit?

Gemeinsame Pressemitteilung des Solidaritätskreises Justice4Mouhamed, Defund the Police Dortmund und Justice Collective Berlin zum Prozesstag am 22.05.2024 am Dortmunder Landgericht

Am 22. Mai 2024 findet am Dortmunder Landgericht der 13. Prozesstag für die fünf Polizeibeamt*innen statt, die im Fall der Tötung von Mouhamed Lamine Dramé angeklagt sind. Zu diesem Anlass veröffentlichen die Initiativen Solidaritätskreis Justice4Mouhamed, Defund the Police Dortmund und Justice Collective aus Berlin gemeinsames Infomaterial. Mit einem Flyer und einem Plakat veranschaulichen die Initiativen den systemischen Rassismus, in den der Fall eingebettet ist und weshalb sie vor Gericht keine Gerechtigkeit erwarten. Das Material zeigt, weshalb das Narrativ der vermeintlichen Rechtmäßigkeit von Polizei und Justiz fehlerhaft ist.

Anthony Obst vom Berliner Justice Collective erklärt diesbezüglich:
„Gerichte sind keine neutralen Orte. Die Idee, dass dort so etwas wie »neutrale« Rechtssprechung auf Basis demokratisch ausgehandelter Regelwerke stattfindet, ist ein liberaler Mythos. Dieser hat wenig mit der Realität zu tun. Welche Menschen überhaupt im Gericht landen und wie dort mit ihnen umgegangen wird, steht eng mit sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen in Verbindung.“ 

Auch wenn im Fall der Tötung des 16-jährigen Mouhamed Lamine Dramé nun fünf Polizist*innen auf der Anklagebank sitzen, haben sie gute Chancen, glimpflich davonzukommen. Denn, so Obst weiter: „Wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge werden Polizist*innen nur äußerst selten für Gewaltanwendung zur Verantwortung gezogen.“

Im Gegensatz dazu – so zeigt es das Infomaterial – werden zum Beispiel Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft öfter und härter von Gerichten verurteilt, als deutsche Staatsbürger*innen in vergleichbaren Fällen. Die strukturellen Ungerechtigkeiten des Strafsystems zeigen sich etwa auch im übermäßigen Polizieren und Bestrafen bestimmter Bevölkerungsgruppen, die im derzeitigen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem verhältnismäßig wenig Macht haben. Zu diesen zählen unter anderem Wohnungslose, von Rassismus, Sexismus, und/oder Ableismus betroffene Personen sowie Menschen in psychosozialen Krisen. Menschen wie Mouhamed, die von mehreren dieser Diskriminierungen betroffen sind, werden dadurch von diesem System besonders vulnerabel gemacht. In seinem Fall hatte dies tödliche Folgen.

Während bestimmte Personengruppen also strukturell im Strafsystem entmächtigt und von diesem bedroht oder sogar getötet werden, kommt der Polizei innerhalb der Gesellschaft und Justiz eine außerordentliche Macht zu. Dies betrifft auch beispielsweise ihre vermeintliche Glaubwürdigkeit vor Gericht. Anthony Obst ergänzt dazu: „Polizeiaussagen werden von gesellschaftlichen Akteur*innen sowie vor Gericht selten infrage gestellt. Dagegen anzukommen ist für von Polizeigewalt Betroffene und deren Angehörige eine enorme Herausforderung.“

Für die Angehörigen ist der Prozess eine enorme Belastung

Im Gerichtsprozess um die Tötung von Mouhamed Lamine Dramé wird diese Herausforderung deutlich. Aus Sicht der Angehörigen findet bei dem Prozess eine Täter-Opfer-Umkehr statt, bei der Mouhamed zu einer angeblichen Bedrohung für die Polizei gemacht wird. Die beiden Brüder Sidy und Lassana Dramé fühlen sich vom Gericht weder respektiert noch wertgeschätzt

„Für die Angehörigen ist der Prozess eine Retraumatisierung, denn auf ihre Bedürfnisse wird keine Rücksicht genommen,“ sagt Bo, Sprecher*in des Solidaritätskreises Justice4Mouhamed. 

Ohne Einsicht oder Reue erklären die Beschuldigten, der Einsatz, bei dem sie Mouhamed töteten, sei aus ihrer Sicht gut gelaufen. Es ist daher kaum verwunderlich, dass die Brüder öfters unter Tränen den Gerichtssaal verlassen. Sie würden gerne ein Statement abgeben, doch dies wird ihnen vom Gericht bisher verwehrt. Alex vom Solidaritätskreis ergänzt: „Dass die Hinterbliebenen keines Blickes gewürdigt und in ihrem Anliegen und Schmerz nicht gesehen werden, ist nur schwer auszuhalten.“

Für die Initiativen hinter dem Infomaterial steht fest:
Bei Polizeigewalt und ungleicher Behandlung im Gerichtssaal handelt es sich nicht etwa um eine Aneinanderreihung von Einzelfällen. Nicht nur in der Dortmunder Nordstadt gehört rassistisches Polizieren zum Alltag. Deutschlandweit setzt sich in Gerichtssälen der systematische Rassismus des Strafsystems fort. 

Defund the Police Dortmund betont daher, dass es sich bei dem Fall „um ein strukturelles Problem der vermeintlichen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden handelt, welches nicht durch Reformen gelöst werden kann.“ 

Die abschließende Forderung der Initiative lautet daher: „die Abschaffung der Polizei sowie neue Debatten zu emanzipatorischen und selbstorganisierten Formen von Sicherheit.“

Wir fordern:
Gerechtigkeit für Mouhamed und seine Familie, sowie für alle Betroffenen von rassistischer Polizeigewalt!

Der Infoflyer der Initiativen wird bei den Mahnwachen am Dortmunder Landgericht an den Prozessterminen verteilt und an verschiedenen Orten ausliegen. Der Flyer sowie weiteres Material stehen zudem auf unseren Webseiten zum Download zur Verfügung.

Kontakt

solidaritaetskreismouhamed@riseup.net

https://defund-the-police.org/

https://www.justice-collective.org/

Material zum Download:

Pressemitteilung 17. April 2024 – 11. Verhandlungstag in der Hauptverhandlung am Landgericht Dortmund zum Tod von Mouhamed Lamine Dramé

„Die späten Einlassungen gehören zur Verteidigungsstrategie“

16.04.2024 – In Zusammenarbeit mit dem Grundrechtekomitee und NSU-Watch NRW

Am nun kommenden Mittwoch, den 17. April 2024, wird vor dem Landgericht Dortmund zum 11. Mal in der Anklage gegen fünf Polizist*innen verhandelt. Das Gericht um den vorsitzenden Landgerichtsrichter Thomas Kelm soll Recht sprechen in der Frage, wie der 16-jährige Mouhamed Lamine Dramé am 8. August 2022 von Polizist*innen der Dortmunder Nordstadtwache getötet wurde.

Das Gericht verhandelt seit Mitte Dezember 2023. Nach Monaten der Beweiserhebung wollen zwei der angeklagten Polizist*innen nun endlich Einlassungen zur Sache machen.

„Die Einlassungen der Angeklagten kommen spät. Das überrascht uns nicht. Denn wir gehen davon aus, dass die Polizist*innen auf der Anklagebank jede Möglichkeit nutzen, sich in ihrer Sichtweise auf ihren tödlichen Einsatz vor 1,5 Jahren bestmöglich vorzubereiten,“ sagt Bo, Sprecher*in des Solidaritätskreises Justice4Mouhamed. „Die späten Einlassungen gehören zur Verteidigungsstrategie.“

Nach vier Monaten vor Gericht kennen die Angeklagten inzwischen die Aussagen fast aller Tatzeug*innen, darunter vor allem auch die ihrer eigenen Kolleg*innen, die mit am Einsatz beteiligt waren.

„Wir erwarten von einem Gericht, das die Tragweite des Prozesses ernst nimmt, dass es die Einlassungen der Angeklagten und die Aussagen ihrer Berufskolleg*innen in genau diesen Rahmen einordnet – als strategische Prozessführung der Verteidigung. Die Kammer muss endlich prüfen, wie glaubwürdig das bisher von den Polizist*innen Geschilderte dazu passt, dass am Ende des kurzen Einsatzes ein Mensch durch sie getötet wurde.“

Das zu erwartende große Interesse, welches den Einlassungen der Angeklagten im Prozessgeschehen folgen wird, hat aber einen Haken: „Diese große Aufmerksamkeit ist der Familie Dramé und der Geschichte von Mouhamed Lamine Dramé, noch an keinem einzigen Prozesstag zuteil geworden.“ Im Gegenteil: dem ausdrücklichen Wunsch von Sidy und Lassana Dramé, als Nebenkläger ein Statement abzugeben, wurde von Richter Kelm oder der Staatsanwaltschaft keine Berücksichtigung geschenkt.

„Seit Sidy und Lassana Dramé im Gerichtssaal dabei sein können, sind sie nicht einmal angesprochen, begrüßt oder überhaupt nur wahrgenommen worden. Gericht und Verteidigung tun so, als seien sie Luft,“ ergänzt Alex, Unterstützer*in im Solidaritätskris Justice4Mouhamed.

„Es ist klar, dass Strafprozesse keinen Wert auf zwischenmenschliche Gesten legen – warum auch. Es geht um Rechtsprechung. Dass die Hinterbliebenen aber keines Blickes gewürdigt und in ihrem Anliegen und Schmerz nicht gesehen werden, ist nur schwer auszuhalten.“

Sidy und Lassana Dramé erhoffen sich Gerechtigkeit durch den Prozess für ihre Familie. „Möge die Gerechtigkeit geschehen, möge die Wahrheit ans Licht kommen. Was die Polizei tut, ist überhaupt nicht gerecht. Das ist der Grund, warum die Familie uns hierher geschickt hat. Wir sind hier, um darauf zu warten, dass Gerechtigkeit geschieht. Wir warten darauf, dass am Ende jeder weiß, dass die Polizisten unrecht hatten, als sie unseren Bruder töteten“.

Die beiden Brüder blicken besorgt auf den kommenden Prozesstag: „Wir rechnen mit gut vorbereiteten Aussagen seitens der Polizisten, welche in unserer Erwartung keinen Beitrag dazu leisten werden, die Realität des Geschehenen abzubilden,“ so Sidy Dramé. Sie bitten um zahlreiche Unterstützung am kommenden Prozesstag.

Für den Verhandlungstag am 17. April ist eine Mahnwache des Solidaritätskreises Justice4Mouhamed vor dem Landgericht sowie die solidarische Prozessbeobachtung geplant. Der Gerichtsprozess wird von Beginn an durch den Solidaritätskreis, dem Grundrechtekomitee, NSU-Watch sowie anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen und Einzelpersonen solidarisch begleitet.

Gemeinsame Pressemitteilung mit der Initiative „Schlafen statt Strafen“ zum tödlichen Polizeieinsatz am 03.04.2024 in Dortmund

Die Initiative „Schlafen statt Strafen“ ruft gemeinsam mit dem Solidaritätskreis Justice4Mouhamed zu einer Kundgebung am 05.04.2024 um 19 Uhr an der Reinoldikirche auf. Das Bündnis erinnert an den Verstorbenen und fordert eine lückenlose, unabhängige Aufklärung dieses erneuten Falls von tödlicher Polizeigewalt. „Wir sind erschüttert vom Tod des wohnungslosen Mannes, der gestern durch die Dortmunder Polizei an der Reinoldikirche erschossen wurde. Wir sind erschüttert davon, dass es in Dortmund einen weiteren Toten durch die Polizei gibt, nachdem Mouhamed Lamine Dramé vor weniger als zwei Jahren von der Polizei erschossen wurde und ein 44-jähriger Mann ohne Wohnung kurz danach in Dorstfeld als Folge eines Tasereinsatzes durch die Polizei starb“, so eine Sprecherin des Bündnisses.

Den aktuell veröffentlichten Berichten nach soll der getötete Mann, der noch nicht namentlich genannt ist, einen anderen wohnungslosen Mann mit einer circa 2.5 m langen Eisenstange angegriffen haben, bevor die Polizei eintraf. Die Polizei forderte ihn nach ihrem Eintreffen auf, die Stange wegzulegen. Als er der Aufforderung nicht nachkam, taserte die Polizei den 52-Jährigen. Als dies nicht die gewünschte Wirkung zeigte und er sich auf die Polizei zubewegte, erschoss ihn einer der Polizist*innen (WDR, 2024). Anstatt die Situation zu beruhigen und auf Abstand zu gehen, griff die Polizei den Mann an, wie auch mehrere Videos und Berichte von Augenzeug*innen belegen, welche dem Bündnis vorliegen.

Dieser Fall zeigt wieder einmal die Unfähigkeit der Polizei, mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen umzugehen. Wie bei Mouhamed Dramé und dem weiteren Menschen, der 2022 in Dortmund getötet wurde, eskalierte die Polizei die Situation durch den Einsatz von Tasern, anstatt deeskalative Mittel auszuschöpfen. Taser und Pfefferspray sind nach Einschätzung vieler Expert*innen grundsätzlich ungeeignet in dynamischen Situationen und bei Menschen in psychischen Ausnahmesituationen. Die drei tödlichen Polizeieinsätze in Dortmund bestätigen dies auf dramatische Weise. „Wir sehen das Taser-Experiment als gescheitert an, denn immer wieder führt der Gebrauch dieser Waffen zum Tode und eine Deeskalation wird nicht erreicht“, so die Sprecherin des Bündnisses.

Doch noch viel schwerwiegender ist der erneute Einsatz tödlicher Schusswaffen. Dieser ist in keinem Fall eine logische Konsequenz auf das Tasern. Die Tötung von Menschen in psychischen Ausnahmesituationen durch die Polizei darf nicht passieren. Als Teil der Exekutive behauptet die Polizei, für die Sicherheit aller Menschen zu sorgen, egal woher diese kommen, in welchen Lebensumständen sie sich befinden und auch in welcher psychischen Situation sie sind. Doch dieser Aufgabe kann und möchte eine mit militärischem Gerät hochgerüstete Institution nicht nachkommen und die vermeintliche „Sicherheit“ der Polizei besteht zum großen Teil in der Kontrolle und Verunsicherheitlichung marginalisierter Menschen. So kommt es dann auch oft zu maßloser Gewalt. Bilder von gleich mehreren Polizeibeamt*innen, die auf Menschen in psychischen Krisen losgehen oder schießen, gehen dank aufmerksamer Passant*innen um die Welt und lassen das Bild von einer Polizei als „Freund & Helfer“ bröckeln. 

Wohnungslose Menschen sind besonders häufig von dieser Gewalt betroffen und durch ihre vulnerable Lebenssituation, die starke Stigmatisierung und Marginalisierung, die sie erfahren, eigentlich besonders auf Schutz angewiesen. Immer wieder müssen Menschen ohne Wohnung Gewalt und Willkür von kommunalem Ordnungsdienst, Ordnungsamt und Polizei erfahren. Im Zwischenbericht der durch das Innenministerium beauftragten Studie der Deutschen Hochschule der Polizei wurden Vorurteile gegenüber Wohnungslosen sowie muslimfeindliche Einstellungen innerhalb der Polizei festgestellt (Zeit, 2023). Dass erst dieser Tage bekannt wurde, dass es mindestens 400 laufende Ermittlungen gegen Polizist*innen wegen rechtsextremer Gesinnung laufen, sollte dabei auch mehr als eine Randnotiz sein (Stern, 2024). Die Polizei zeigt auf allen Ebenen, dass sie nicht fähig und gewillt zu deeskalierenden Einsätzen und dem Umgang mit vulnerablen Personengruppen ist. 

Dies ist einer der Gründe, weshalb auch die Übergabe der Ermittlung des Falls an die Polizei in Recklinghausen scharf zu kritisieren ist. Es braucht von der Polizei unabhängige Ermittlungsstrukturen, die Fälle von Polizeigewalt untersuchen. Nur so kann sichergestellt werden, dass Polizist*innen für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden. Es besteht keine Unabhängigkeit zwischen Polizeistationen. Polizist*innen können nicht unabhängig gegen ihre eigenen Kolleg*innen ermitteln. 

Um eine unabhängige, lückenlose Aufklärung der tödlichen Schüsse zu fordern und sich gegen Polizeigewalt zu stellen, rufen die Initiativen am Freitag um 19 Uhr zur Kundgebung an der Reinoldikirche auf. Wir fordern Schutz für, statt Gewalt gegen marginalisierte und vulnerable Gruppen wie wohnungslose und von Rassifizierung betroffene Menschen. Das Bündnis fordert: „Keine weitere Person darf durch tödliche Polizeigewalt sterben. Außerdem möchten wir den Namen des Verstorbenen wissen, da nur so ein würdiges Gedenken möglich ist.“ 

Die Forderung nach einer grundlegenden Umstrukturierung, Demilitarisierung und Entnazifizierung der Institution Polizei sowie eine verstärkte Finanzierung von sozialen Hilfen und die Beauftragung von sozialen Akteur*innen anstatt der Polizei wird auch durch diesen Fall von tödlicher Polizeigewalt deutlich untermauert.

Unsere Gedanken sind bei dem getöteten Menschen und allen Menschen, die nun an ihn denken und um ihn trauern. 

1)      WDR, 2024: https://www1.wdr.de/nachrichten/mann-dortmund-randalierer-reinoldikirche-niedergeschossen-100.html

2)      Zeit, 2023: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-04/studie-polizei-einstellung-rassismus-vorurteile

3)      Stern, 2024: https://www.stern.de/gesellschaft/hunderte-rechtsradikale-und-mutmassliche-reichsbuerger-in-den-polizeien-der-bundeslaender-34596762.html

Pressemeldung vom 29. Januar 2024

Zwei Brüder von Mouhamed Lamine Dramé sind in Deutschland und werden am Gerichtsprozess teilnehmen

Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed hat in den letzten Monaten Spenden für Familie Dramé gesammelt. Nach intensiver Arbeit hinter den Kulissen, können wir heute endlich verkünden: Zwei Brüder von Mouhamed, Sidy und Lassana Dramé, sind in Deutschland und werden am Prozess teilnehmen. Sie werden am 31.01.2024 als Nebenkläger im Gerichtssaal anwesend sein.

Sidy Dramé, der ältere Bruder von Mouhamed, hat dafür in einem Video Grußworte an die solidarischen Menschen gerichtet:

Ich grüße euch im Namen der Familie Dramé. Nun sind wir da für die Prozesstage. Ich möchte alle grüßen, die uns dabei geholfen haben, nun am Prozess teilnehmen zu können. […] Und auch alle Personen, die hinter [dem Solidaritätskreis] stehen, wollen wir herzlichst grüßen! Wir sind sehr glücklich, nun mit euch zu sein und hier vor Ort mit euch zu kämpfen! Wir sind auch sehr, sehr zufrieden, bald im Saal zu sein. Dabei zu sein an den Prozesstagen. Um dort alles zu sehen und mitzubekommen, wie es dort läuft.“

Auch der Solidaritätskreis bedankt sich bei allen solidarischen Menschen. Eure Spenden ermöglichen der Familie Dramé die Teilnahme am Gerichtsprozess.

Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed setzt sich seit dem Tag der Tötung Mouhameds am 08.08.2022 für Aufklärung und Gerechtigkeit ein. Wir sind in engem Kontakt mit der Familie Dramé und haben stets unser Handeln an den Wünschen der Familie orientiert. Einer der größten Wünsche der Familie Dramé war von Anfang an, im Gericht anwesend sein zu können. Sie wollen bei dem Prozess vor Ort sein, in dem es darum geht, dass ihr Bruder mit unfassbarer Polizeigewalt in einer psychischen Ausnahmesituation von Beamt*innen erschossen wurde.

Aus Respekt für die Famile und die große Belastung, die ein solcher Prozess für Angehörige bedeutet, bitten wir Presse- und Medienvertreter*innen ausdrücklich, die Brüder Dramé während der Verhandlungstage und darüber hinaus in Ruhe zu lassen.

Solidaritätskreis fordert Verantwortungsübernahme der Stadt Dortmund

Die Pressesprecherin des Solidaritätskreises Justice4Mouhamed bedankt sich für die breite Solidarität und appelliert gleichzeitig an die Stadt Dortmund: Wir sind sehr froh, dass wir mit viel Unterstützung der Zivilgesellschaft die Einreise von Mouhameds Brüdern erreichen konnten. Wir erwarten weiterhin, dass die Stadt Dortmund sich an den Kosten beteiligt und somit Verantwortung übernimmt.“

Die beiden Brüder von Mouhamed werden an den nächsten Prozessterminen teilnehmen. In seiner Videobotschaft fordert Sidy Dramé: „Gerechtigkeit für Mouhamed! Wir sind auch hier, damit ganz Deutschland hinschaut und uns hilft, den Kampf bis zum Ende zu führen. […] Danke an alle, die mit der Familie Dramé mitfühlen!“

Wir werden gemeinsam an der Seite der Familie kämpfen, bis Mouhamed Gerechtigkeit erfährt. Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed wird die Familie bei ihrem Aufenthalt in Dortmund und weiterhin auch im Senegal unterstützen. Um dies zu gewährleisten, sind wir weiterhin auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Wer dabei helfen möchte, kann dies über unsere Spendenkampagne bei Betterplace tun:

www.betterplace.org/de/projects/131472-prozessteilnahme-der-familie-drame-sowie-solidarische-prozessbegleitung

Wir fordern: Gerechtigkeit für Mouhamed und seine Familie!

Solidaritätskreis Justice4Mouhamed


Hintergrundinformation

Am 19.12.2023 startete der Gerichtsprozess gegen fünf Polizist*innen, die an dem Einsatz, bei dem Mouhamed Lamine Dramé erschossen wurde, beteiligt waren. Der Schütze muss sich wegen Totschlag, drei Beamt*innen wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt und der Einsatzleiter wegen Anstiftung zu gefährlicher Körperverletzung verantworten.

Als Solidaritätskreis begleiten und beobachten wir den Prozess. Bislang wird dabei vor allem eines deutlich: ein völlig unverhältnismäßiges Vorgehen der Polizei gegen den 16-jährigen Mouhamed am 08.08.2022. Mouhamed hätte in der psychischen Ausnahmesituation, in der er sich befand, Hilfe benötigt – stattdessen eskalierten die Beamt*innen die Situation mit krasser Polizeigewalt. 

Das Notrufprotokoll zeigt das Polizeiversagen auf. Die Polizei wusste, welche Sprachen Mouhamed sprach und dass er bereits eine Woche zuvor in psychiatrischer Behandlung war.

Mouhamed war kein Einzelfall!

Aktuelle Studien belegen, dass 75 Prozent der Menschen, die Polizeigewalt erleben, sich in einer psychischen Krise befinden. Am Beispiel von Mouhamed wird das Versagen der Polizei in solchen Situationen besonders deutlich. Es bedarf anderer Strategien, sodass Menschen in psychischen Krisen die Hilfe bekommen, die sie benötigen. Dazu gehören weder Pfefferspray noch Taser oder eine Maschinenpistole.

Kommende Prozesstermine:

31.01.202406.03.202403.04.2024
21.02.202413.03.202417.04.2024 
28.02.202420.03.2024 

Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed begleitet mit vielen Unterstützenden und solidarischen Menschen den Prozess. Wir organisieren zu jedem Prozesstag (Termine am Ende der Seite) eine Mahnwache für Mouhamed und seine Familie. Alle Menschen sind herzlich zu den Mahnwachen vor dem Landgericht eingeladen.

Wo?

Gericht Kaiserstr. 34, 44145 Dortmund

Wann?

Wir sind ab 07:30 Uhr vor Ort.

Kontakt:

solidaritaetskreismouhamed@riseup.net

https://www.instagram.com/solidaritaetskreismouhamed/

Pressemeldung: Prozessbeginn am 19.12.2023

498 Tage nach den tödlichen Polizeischüssen müssen sich ab dem 19.12.2023 fünf der insgesamt über zehn beteiligten Beamt*innen der Wache Nord vor dem Dortmunder Landgericht verantworten.

Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed wird den gesamten Prozess kritisch begleiten und dokumentieren und ruft zur solidarischen Prozessbeobachtung auf.
Am Tag des Prozessauftakts am Dienstag, den 19.12.2023, ist eine Kundgebung vor dem Dortmunder Landgericht angemeldet. Interessierte, die Öffentlichkeit sowie Pressevertreter*innen sind willkommen zu Kaffee oder Tee, der Prozess selbst startet um 14 Uhr. Ob nun im Gerichtssaal oder vor dem Gebäude:
Hier gilt es wie seit fast 500 Tagen – JUSTICE FOR MOUHAMED!

Wünsche der Familie

Wie seit Beginn unserer Arbeit, sieht sich der Solidaritätskreis auch weiterhin der Familie Mouhameds verpflichtet und steht in engem Kontakt mit ihnen. Ihr Wunsch ist auch eine zentrale Forderung des Solidaritätskreises: Ihnen muss die Chance gegeben werden, als offizielle Nebenkläger*innen im Verfahren an diesem teilzunehmen. Darüber hinaus wünscht sich die Familie eine Symbolkraft des Verfahrens über die Bestrafung der Beschuldigten hinaus.
Mouhameds Geschichte soll ein Präzendenzfall werden: Die Familie fordert, dass die Polizei endlich die Verantwortung übernimmt und anerkennt, dass Mouhamed zu Unrecht erschossen wurde. Die Tat darf nicht als Notwehrhandlung konstruiert werden: Nicht Mouhamed war der gewalttätige Angreifer, sondern die ihm eigentlich zur Hilfe gerufenen Polizist*innen! Die Familie erwartet Gerechtigkeit in der Weise, dass Mouhameds Fall sich niemals wiederholen darf.
„Nichts auf der Welt wird Mouhamed zurückbringen. Wir wollen Gerechtigkeit in Mouhameds Namen und für die Familie Dramé. Alle Verantwortlichen, die an Mouhameds Tötung beteiligt waren, müssen erklären, was passiert ist und vor allem Rechenschaft für ihre Taten abgeben. Wir erwarten eine moralische Reparation, in der klar gemacht wird, dass Mouhamed das Opfer war“, stellte Mouhameds Bruder Sidy uns gegenüber fest, als er vom baldigen Prozessbeginn erfuhr.

Was wird verhandelt?

Der Dienstgruppenleiter des Polizeieinsatzes ist wegen Anstiftung zur Körperverletzung angeklagt. Zwei Polizistinnen und einem Polizisten wird wegen des Einsatzes von Pfefferspray bzw. Tasern gefährliche Körperverletzung im Amt vorgeworfen. Der Polizist, der direkt (0,7 Sekunden) nach dem zweiten Taser-Einsatz Mouhamed mit 6 Schüssen aus einer Maschinenpistole erschoss, ist wegen Totschlags angeklagt.
Der Einsatzleiter als Gesamtverantwortlicher in der Hierarchie sowie einsatztaktisch vor Ort, sieht sich demnach mit der geringsten Anklage konfrontiert: Einzig sein dezidierter Befehl zum Einsatz des Pfeffersprays („Einpfeffern…das volle Programm“) ist hierbei juristisch angeklagt. Seine Einsatzkonzeption, die Einteilung des sogenannten Sicherungsschützen, der ebenfalls von ihm angeordnete Angriff mit Tasern – all dies findet in der Anklage gegen ihn keine Beachtung.

Der Solidaritätskreis begrüßt die Schlussfolgerung von Oberstaatsanwalt Carsten Dombert, der bereits im Vorfeld des Prozesses feststellte, der Einsatz sei unverhältnismäßig abgelaufen, weit jenseits einer Notwehr- oder Nothilfelage. Die Polizist*innen hatten eine statische Lage vorgefunden und diese durch ihre falsche Einsatztaktik eskaliert.
Nur jene, die Mouhamed direkt mit Waffengewalt angriffen, sehen sich nun einer juristischen Konfrontation gegenüber – alle übrigen am Einsatz Beteiligten bleiben bis heute gänzlich unbelangt.

Unsere Erwartungen an den Prozess

„Unabhängig vom Verlauf und den Ergebnissen des Prozesses steht für uns fest, dass der Einsatz eine komplett einseitige Gewalteskalation war. Keine Einsatzkonzepte oder Richtlinien der Polizeiarbeit können diesen gewaltsamen Tod rechtfertigen, genauso wenig wie die juristische Reduktion auf individuelles Fehlverhalten oder einen Einzelfall!“
Nur zwei Prozent aller angezeigten Gewalttaten durch Polizist*innen werden vor Gericht angeklagt und einzig der Fakt, dass hier durch den immensen öffentlichen Druck, die von der Dortmunder Polizei zuerst gewählte Strategie der Vertuschung nicht aufging, führte zu diesem Prozess. „Auch am Ende des Prozesses wird unser Kampf gegen rassistische Polizeigewalt sowie strukturelles Versagen der Institution Polizei nicht abgeschlossen sein. Wir werden auch weiterhin gemeinsam mit der Familie Dramé für Gerechtigkeit kämpfen und an Mouhamed erinnern“, so eine Sprecherin des Solidaritätskreises.

Der Solidaritätskreis begrüßt einen kürzlichen, recht spontanen Besuch seitens der Familie hier in Dortmund, bei dem sie erstmals am Tatort trauern konnten.
Bei diesem kurzen Aufenthalt in Deutschland, der nicht vom Solidaritätskreis organisiert wurde, konnten Mouhameds Vater Lamine und sein Bruder Sidy Dramé persönlich begrüßt werden. In diesem Zusammenhang haben sie ihren Wunsch, beim Prozess vor Ort zu sein, nochmals bekräftigt.
„Wir werden alles daran setzen, um der Familie Dramé die Teilnahme am Prozess zu ermöglichen“, so der Solidaritätskreis. Um dieses Ziel zu erreichen, wird in Kürze eine Spendenkampagne starten.

Wir fordern Gerechtigkeit!
JUSTICE FOR MOUHAMED!

  1. Prozesstag:
    Dienstag 19.12.2023,
    Prozessbeginn: 14 Uhr
    KUNDGEBUNG ab 12 Uhr
    Landgericht Dortmund

»The System is Rotten to the Core« – Ein Jahr nach den tödlichen Schüssen fordert Dortmund weiterhin Gerechtigkeit für Mouhamed Lamine Dramé

Pressemitteilung zur Demonstration am 12.08.2023

„Mouhamed – das war Mord“ skandierten etwa 1500 Menschen auf der Großdemo am 12. August 2023 lautstark trotz Starkregens. Zur Demonstration, die am Samstag in der Dortmunder Innenstadt gegenüber dem Hauptbahnhof startete, waren Menschen und Initiativen aus ganz Deutschland dem Aufruf des Solidaritätskreis Justice4Mouhamed gefolgt, um Mouhamed Lamine Dramé zu gedenken. Mouhamed, der sich im Alter von 14 Jahren auf die Flucht begab, um seine Familie im Senegal zu unterstützen, wurde am 8. August 2023, von der Dortmunder Polizei brutal erschossen.

Der Solidaritätskreis ist sehr glücklich darüber, dass die Demonstration so divers aufgestellt war. Beispielsweise war der sehr kämpferische erste Block von BIPoC (Black Indigenous People of Colour) besetzt. Des weiteren gab es einen leisen Block der Anti-Ableistischen Aktion Ruhr sowie einen symbolischen leeren Block für diejenigen, die fehlen, und in Folge fortgesetzter Gewalt, Diskriminierung und Traumatisierung ihren politischen Ausdruck nicht auf die Straße bringen können. Den Ausrichtenden der Demonstration war es ein Anliegen, dass sich alle Menschen möglichst sicher fühlen. „Uns ist bewusst, dass viele teilnehmende Menschen in ihrem Alltag Unterdrückung erfahren. Sei es bei Kontrollen durch die Polizei, Schikanen durch Ämter und Behörden; auf der Arbeit; in der Schule oder in Form der Diskriminierung durch andere Bürger*innen. Nicht selten entstehen Ängste und Traumata – Daher achtet bitte aufeinander!“ , so ist es im Demokonsens des Solidaritätskreises nachzulesen, der bereits im Vorlauf veröffentlicht wurde.

Umso bestürzter war der Solidaritätskreis über die Versuche der Repression seitens der Stadt Dortmund, welche eine Flyeraktion auf dem Nordmarkt an Mouhameds Todestag gewaltsam unterbrach. „Diesen Vorfall werden wir in naher Zukunft erneut thematisieren. Heute steht jedoch das Gedenken an Mouhamed im Fokus“, so Presseperson Anna Neumann. Auch eine repressive Auflage der Polizei, die eine Zwischenkundgebung vor der Wache Nord untersagt hatte, war nur eine Randnotiz.

Zum Auftakt der Veranstaltung sprach der Solidaritätskreis selbst und verlas das Worte der Familie Dramé, die sich immer noch in tiefer Trauer um ihren Angehörigen befindet und weiterhin Gerechtigkeit fordert. Bei dem friedlichen Gedenkmarsch wurde deutlich, dass sich eine starkes Netzwerk gedenkpolitischer und selbstorganisierter Initiativen geknüpft hat, die in Dortmund und an vielen anderen Orten gleichzeitig unermüdlich und solidarisch, spektrenübergreifend und intersektional für Aufklärung, Gerechtigkeit und ein Ende von rassistischer Polizeigewalt eintreten.
Die Abolitionistin und Wissenschaftlerin Vanessa E. Thompson hat in einem so kämpferischen wie bewegenden Redebeitrag den systematischen Zusammenhang des Systems Polizei, der Staatsgewalt und kolonial-kapitalistischer Gewaltverhältnisse verdichtet, und in Wechselrede die unzähligen Namen getöteter Opfer dieser Gewaltverhältnisse genannt.

Die Schilderungen von tödlicher Polizeigewalt fügen sich zu einem traurigen Bild, was das von den Behörden gern genutzte Narrativ von Einzelfällen als Instrument entlarvt, um dessen systematische Dimension zu verdecken. Eine umfassende Datengrundlage zu Einsätzen der Polizei mit Todesfolge, die dieses Narrativ widerlegen, lieferte die Initiative TOPA (»Tode bei Polizeieinsätzen aufklären«) aus Bochum, die im Jahr 2022 insgesamt 36 tödliche Fälle von Polizeigewalt dokumentierte. Auch Death in Custody, die Todesfälle in Polizeigewalt dokumentieren, beklagen: „Seit unserem letzten Grußwort für diese Demo sind über dreißig Todesfälle dazugekommen. Damit niemand nachhakt, heißt es dann oft, die Betroffenen seien vor ihrer Tötung aggressiv gewesen, in einer psychischen Krise oder unter dem Einfluss irgendwelcher Drogen.“ So wurde auch auf Mouhamed das stereotype rassistische Bild eines aggressiven Angreifers projiziert.

Leider reißt die Gewalt innerhalb von Polizei und Ordnungsbehörden auch im Jahr 2023 nicht ab. „Mouhameds Tod – und der von Tausenden – zeigt uns einmal mehr, dass Rassismus tötet! Er tötet in einem System, das vorgibt auf Menschenrechte und Würde zu bauen, während es auf Ausbeutung, Patriarchat und kolonialem Rassismus beruht. Dieses System greift uns und jede*n an, der als Andere gelesen sind. Weil wir geflüchtet, Schwarz, of colour, queer, Frauen, obdachlos, außerhalb neurologischer Normen, sind.“, skandalisierten No Lager Osnabrück in ihrem Beitrag am Dortmunder U.

Insbesondere in der belebten Innenstadt sorgte der bunte Demonstrationszug für viel Aufmerksamkeit, Passant*innen applaudierten spontan. Zahlreiche Transparente und Bilder, die von den Teilnehmenden hochgehalten wurden, waren zu sehen. „Die große Trauer, Wut und Verzweiflung ist auch nach einem Jahr ungebrochen und wir sind überwältigt von dieser breiten Beteiligung. Die vielen Gesichter und Namen sollen uns allen in Erinnerung bleiben.“ so Anna Neumann von der Pressestelle des Solidaritätskreises.

Auf dem Platz gegenüber der Polizeiwache Nord sprach die Mutter des vor drei Jahren in Amsterdam erschossenen Sammy Baker. Sein Todestag jährt sich am 13. August. Derzeit lässt seine Familie den Tod durch Forensic Architecture, die bereits gegenforensische Analysen in Zusammenarbeit mit der Initiative Oury Jalloh sowie der Initiative 19.Februar Hanau durchführten, untersuchen.

Wir schließen uns den starken Worten der Initiative Ahmed Ahmad bei der Abschlusskundgebung am Hauptbahnhof an: „Wofür wir kämpfen ist, dass dieser institutionelle Rassismus der Polizei- und Justizbehörden endlich gesehen wird. Und wir fordern einen strukturellen Wandel der Behörden! Das Wegsehen, wenn jemandem massives Unrecht widerfährt, muss ein Ende haben – genau das ist aber leider eine tödliche Realität mit Kontinuität. Aber wir wollen und werden uns nicht an diesen Normalzustand gewöhnen. “

An diese Diagnose unserer gesellschaftlichen Verhältnisse schloss die Initiative Copwatch Köln mit einem Redebeitrag an, der auf die „geteilte grausame Geschichte“ und der „Verwobenheit der kolonialen Vergangenheit Europas mit der grausamen Realität der Gegenwart“ schaute und genau aus dieser Erfahrung heraus den Wunsch nach anderen Bedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens entwarf: „Wir tragen unsere Kraft in uns, daher lasst sie uns großherzig miteinander teilen. Bauen wir starke und liebevolle Verbindungen auf, die sich nicht von rassistischen Kräften trennen lassen. Unser Rhythmus ist die Gerechtigkeit – unser Lied ist die Freiheit – Freiheit für alle Schwarzen Menschen auf dieser Welt – Freiheit für Afrika.“

In Zukunft hat der Solidaritätskreis noch einiges vor, denn er unterstützt die Familie Dramé bei der Nebenklage. So müssen sich fünf der zwölf Polizist*innen, die im Einsatz waren, in einem anstehenden Prozess vor Gericht verantworten. Der Schütze ist wegen Totschlags angeklagt, drei weitere Beamt*innen wegen gefährlicher Körperverletzung; der Einsatzleiter wegen Anstiftung zu gefährlicher Körperverletzung. Flexible Flugtickets sind bereits gekauft, damit die Familie dem Prozess beiwohnen können. Sie wollen die Polizist*innen sehen, die ihren geliebten Verwandten erschossen haben, ihnen Fragen stellen und eine Entschuldigung. Mouhameds Familie ist es zudem ein Anliegen, den Ort an dem ihr Sohn und Bruder starb zu sehen, um Abschied nehmen zu können. „Wir kritisieren, dass es für solche Fälle keine humanitären Visa gibt, die eine Einreise für die Angehörigen erleichtern und denken, dass die Politik und die Stadt in diesem Punkt Verantwortung übernehmen müssen. Wir empfinden es als Skandal, dass Angehörige zusätzlich zu diesem schmerzlichen Verlust, Zeit und Kosten für Visa aufbringen müssen“, so Anna Neumann Presseperson des Solidaritätskreises.

Bis zur geforderten Gerechtigkeit ist es ein langer Weg, denn diese geht über die Aufarbeitung von Mouhameds Tod hinaus und erfordert auch eine grundlegende Veränderung des Miteinanders und den Zugang zu grundlegenden, lebensnotwendigen Ressourcen sowie gesellschaftlicher Teilhabe. Laut der Initiative muss ein menschenwürdiges Leben durch eine angemessene Unterkunft und eine Existenzsicherung gewährleistet werden. „Insbesondere minderjährige Geflüchtete, die oftmals schwer traumatisiert sind, bräuchten Zugang zu adäquater sozialer und psychologischer Unterstützung. Auch dafür ist Mouhamed ein trauriges Beispiel“ schlussfolgert Anna Neumann, Presseperson des Solidaritätskreises. „Dafür werden wir uns mit unserer ganzen Kraft einsetzen“.

Ein Jahr nach den tödlichen Schüssen – Gedenkdemonstration für Mouhamed Lamine Dramé

Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed ruft am 12.08.2023 zu einer bundesweiten Demonstration auf, um dem von der Polizei erschossenen 16-Jährigen Mouhamed Lamine Dramé zu gedenken. Erneut werden Bündnisse, Initiativen und Einzelpersonen aus ganz Deutschland anreisen, um gemeinsam gegen Polizeigewalt zu demonstrieren und Gerechtigkeit zu fordern.

Sachstand

Am 08.08.2022 wurde Mouhamed, der sich im Hof einer Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt aufhielt, von der Polizei erschossen. Der zuvor aus dem Senegal geflohene Jugendliche befand sich in einer psychischen Krise und seine Betreuungspersonen verständigten aus der Sorge heraus, dass er sich das Leben nehmen würde, die Polizei.

Insgesamt waren 12 Beamt*innen vor Ort, die Mouhamed zuerst eine komplette Flasche Pfefferspray ins Gesicht sprühten und kurz darauf zweimal den Taser nutzen und schließlich sechs Schüsse aus einer Maschinenpistole abgeben, wobei fünf Mouhamed tödlich trafen.
Der Jugendliche hielt sich ein Messer an den Bauch und befand sich zum Zeitpunkt des Einsatzes auf einem umzäunten Hof. Eine Gefahr für andere Personen bestand damit nicht. Anhand von Audioaufnahmen konnte rekonstruiert werden, dass der Einsatz von Taser und Maschinenpistole fast zeitgleich erfolgte. Dies bedeutet, dass unmittelbar nach Einsatz des Elektroschockers, der einem Menschen bereits stärkste Schmerzen zuführt und kurzfristig außer Gefecht setzt, geschossen wurde. Mouhamed verstarb kurz darauf an den schweren Verletzungen im Krankenhaus. Ein Bemühen der Polizei, das Leben von Mouhamed zu schützen, ist nicht erkennbar. Diese legte ihm nach dem Einsatz der Maschinenpistole, als Mouhamed bereits schwerstens verletzt war, Handschellen an und zeigten einen schwer verwundeten Jungen, der auf dem Weg ins Krankenhaus war, an.

Nachdem seitens der Polizei und des Innenministeriums zunächst an der Rechtmäßigkeit des Einsatzes festgehalten wurde, wurden die Darstellungen der Polizei, in eine Notwehrlage geraten zu sein, immer unglaubwürdiger. Auch die Dortmunder Staatsanwaltschaft stufte den Polizeieinsatz als unverhältnismäßig gewaltvoll ein. So sind inzwischen fünf der am Einsatz beteiligten Beamt*innen angeklagt. Der Solidaritätskreis bereitet sich auf den Gerichtsprozess vor, um diesen eng zu begleiten und vor allem der Familie von Mouhamed Unterstützung zu geben.

Forderungen

Auch in diesem Jahr gehen wir unter dem Motto „Es gibt 1000 Mouhameds. Sie verdienen Gerechtigkeit!“ auf die Straße, um deutlich zu machen, dass nicht nur die Aufklärung des Mordes an Mouhamed, sondern auch eine Aufklärung der zahlreichen weiteren Polizeieinsätze, bei denen Menschen zu Tode gekommen sind, unser politisches Begehren ist.
Dass die Polizei strukturelle Probleme hat, die nicht durch Reformen zu lösen sind, wird deutlich, wenn die zahlreichen anderen Fälle gemeinsam betrachtet werden. So sind in diesem Jahr bereits mindestens vier Menschen durch Polizeikugeln getötet worden. Auf einen jungen Autofahrer, der seitdem querschnittsgelähmt ist, feuerte die Polizei in Herford insgesamt 34 Kugeln ab.[1] Auch in Königs Wusterhausen endet ein Polizeieinsatz tödlich und die Schilderungen der Polizei lassen erhebliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit des Einsatzes aufkommen.

Dass die Polizei keinerlei Expertise im Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen hat und keinerlei Deeskalationsstrategien besitzt, wird auch deutlich, wenn die zahlreichen anderen Fälle von Polizeigewalt betrachtet werden. So sind es insbesondere Menschen in psychischen Krisen, die von der Polizei gewaltvoll behandelt werden, obwohl sie eigentlich medizinische oder psychologische Unterstützung benötigen.

„Neben der Aufklärung der zahlreichen Fälle von Polizeigewalt fordern wir als Solidaritätskreis auch eine Entmilitarisierung der Polizei. Maschinenpistole und Taser werden in einer rassitischen und exkludierenden Logik besonders bei psychischen Ausnahmesituationen und migrantisieren Personen angewandt. Daher sind diese Personengruppen insgesamt stärker gefährdet. Hinzu kommen, wie im Falle Mouhamed, die Eskalation einer statischen Situation. Wir fragen uns, warum überhaupt die Polizei kommen muss, wenn es sich um ein medizinisches oder psychologisches Problem handelt und warum keine bessere Anbildung an Dolmeter*innen-Dienste besteht“, so der Solidaritätskreis.
Rassistische Strukturen, fehlende Deeskalationsstrategien im Umgang mit psychisch erkrankten Personen, Ableismus und Sexismus führen dazu, dass die Polizei vielen Menschen nicht die versprochene Sicherheit bietet, sondern Polizeieinsätze gewaltvoll – oder wie in Mouhameds Fall sogar tödlich – verlaufen.

Wir als Solidaritätskreis wollen wissen, warum ein verzweifelter Jugendlicher durch die Polizei mit dieser Brutalität erschossen wurde und fordern Konsequenzen für die am Einsatz beteiligten Beamt*innen sowie eine komplette Schließung der Polizeiwache Nord. In Fällen von Polizeigewalt muss es unabhängige Beschwerde- und Ermittlungsstellen geben.

„Eine ganz klare Forderung von uns ist, dass institutioneller Rassismus aufgearbeitet werden muss. Damit meinen wir keine Diversity-Quoten innerhalb der Polizei, sondern eine Abkehr von rassistischen, diskriminierenden Einsatzlogiken. Hierarchische Gefüge innerhalb der Polizei vertragen sich nicht mit positiver Fehlerkultur, einem besonnen, deeskalativen Vorgehen und Kritikfähigkeit. Der Mord an Mouhamed sowie der anschließende Versuch ihn als Angreifer zu inszenieren, zeigt deutlich, dass auch ein 12-Personen Team der Polizei, welches später durch einen der Anwälte, als besonders divers gelabelt wurde, nicht kompetent ist, um einem Jugendlichen in einer psychischen Krise zu helfen.“

Aktuell

Die Dortmunder Ordnungsbehörden versuchen mit massiven Einschüchterungsversuchen die Bewegung unter Druck zu setzten und einzuschüchtern. So wurden heute, am Todestag, beim Verteilen von mehrsprachigen Infoflyern auf dem Nordmarkt, zwei Personen festgehalten. Zuvor wurde unter Gewaltanwendung das Informationsmaterial abgenommen. Einer festgehaltenen Person wurden Handschellen angelegt, die auch bei der Anhörung nicht entfernt wurden. Nach dem Einsatz wies die Person Druckstellen an den Handgelenken durch diese, sowie Hämatome am Oberarm durch Griffe auf.
„Wir sehen anhand dieses Vorfalls kein Problem- und Reflexionsbewusstsein seitens der Ordnungsbehörden und verurteilen dieses Verhalten scharf! So sieht unseres Erachtens kein verantwortungsvoller Umgang mit behördlichem Versagen, das den Tod Mouhameds verantwortet, aus. Wir sehen hier eine Fortsetzung einer eskalativen Einsatzlogik.“

Auch in den Auflagen der Polizei, die für die Demonstration erlassen wurden, wird deutlich, dass der Protest gegen die Ermordung von Mouhamed delegitimiert wird. So wird in dem Schreiben die Verwendung von dem Satz „Erinnern heißt kämpfen“ als Eskalationspotenzial bewertet. Hierbei geht es jedoch um Erinnerungsarbeit für die Betroffenen von rassistischen Anschlägen sowie rassistischer Polizeigewalt.

„All diese Versuche der Einschüchtung bestärken uns nur noch mehr, dieses wichtige Thema in die Öffentlichkeit zu bringen. Wir möchten Familien, Angehörigen und Initiativen, die sich gegen tödliche Polizeigewalt einsetzten, eine Bühne geben, um die zahlreichen Geschichten zu hören, uns zu verbünden und unsere Solidarität ausdrücken“, so Sarah Claßmann, Aktivistin im Solidaritätsbündnis.

Über die Demonstration hinaus wird es im Monat August eine ganze Veranstaltungsreihe geben, die unterschiedliche Vorträge und Aktionen zum Thema (rassistische) Polizeigewalt umfasst. Auf unserer Homepage ist eine umfassende Auflistung aller Veranstaltungen zu finden.

Die Demonstration startet am 12. August 2023 um 14:00 Uhr an den Katharinentreppen gegenüber des Dortmunder Hauptbahnhofs und endet an der nördlichen Seite des Hauptbahnhofes, wo ein Foodtruck die Demoteilnehmenden erwartet.

Pressekontakt:

solidaritaetskreismouhamed@riseup.net