Bericht vom 31. Prozesstag (Urteilsverkündung) – 12.12.2024

Der Prozesstag in Kürze:

  • Das Gericht urteilt Freisprüche für alle fünf Angeklagten, die wegen schwerer Körperverletzung, Totschlag und Anstiftung zu diesen Taten vor Gericht standen.
  • Gericht bestätigt: Von Mouhamed ging kein Angriff auf die Beamt*innen aus.
  • Das Gericht gesteht den Angeklagten aber zu, wenn auch fälschlich von einem Angriff oder einer Angriffsabsicht ausgegangen zu sein und in dieser Überzeugung gehandelt zu haben – wofür sie nicht bestraft werden können.
  • Die Brüder des Getöteten und die solidarischen Prozessbegleiter*innen sind über das Urteil entsetzt. Im Gerichtssaal gibt es spontane Ausrufe der Solidarität und Rufe nach Gerechtigkeit.

Zum Urteilstag sind so viele solidarische Prozessbeobachter*innen vor Ort wie noch an keinem anderen Prozesstag. Schon vor 7 Uhr stehen so viele Menschen vor der Eingangstür zum Besucher*innenteil des Gerichtssaals 130 an, dass alle Plätze belegt sind – zum Ärger der später ankommenden Polizeibeamt*innen.

In der Einlasskontrolle müssen viele Besucher*innen ihre T-Shirts mit Aufdruck von Mouhameds Gesicht ausziehen. Manche Personen werden aufgefordert, ihre Jacken zu öffnen, um ihre T-Shirts zu überprüfen. Zuschauer*innenbereich als auch Pressebereich sind voll.

Um 13:12 betritt das Gericht den Saal. Wie bereits oft bleibt eine förmliche Eröffnung des Verhandlungstages aus. Unmittelbar verkündet der vorsitzende Richter Kelm „im Namen des Volkes“: Alle fünf Angeklagten werden freigesprochen. Die Kosten des einjährigen Prozesses werden der Staatskasse auferlegt. Im Publikum gibt es einige ungläubige und entsetzte Reaktionen.

Der Richter holt zu seiner Begründung aus, das Ergebnis sei „nicht unbedingt vorhersehbar“ gewesen. Bezüglich einiger Angeklagter habe eine Verurteilung teilweise zunächst nahe gelegen. Dies habe sich in der Hauptverhandlung jedoch anders ergeben

Richter Kelms folgende Ausführungen scheinen mehrheitlich frei vorgetragen.
Er fasst einige der bekannten Eckdaten zu Mouhameds Lebensgeschichte zusammen, bezeichnet dabei Mouhameds dreijährige Flucht als „Anreise“, und erwähnt mehrmals dessen Angabe, seine Eltern seien verstorben. Auch kritisiert er die Kommunikation zwischen LWL-Klinik und Jugendhilfeeinrichtung nach dem Behandlungsgespräch für eine fehlende Informationsweitergabe zu Mouhameds weiterer Betreuung.

Dann beschreibt Richter Kelm den geendeten Polizeieinsatz. Alternativen zum Einsatzplan hatte es nicht gegeben, man habe „voll darauf vertraut, dass das klappt“. Kelm folgert, dass Mouhamed die Ansprachen uniformierter Kräfte und lauten Befehle hätte bemerken müssen – dass rückwirkend aber nicht sicher festzustellen sei, ob er dies in seiner psychischen Situation tat, und dass davon auszugehen sei, dass er dazu nicht in der Lage war.

Richter Kelm wiederholt die polizeiliche Schilderung, dass die Umsetzung des Suizids allerdings jederzeit hätte erfolgen können – eine Beurteilung, die von Augenzeug*innen und Expert*innen wiederholt infrage gestellt wurde. Kelm beschreibt den Befehl zum Einsatz des Reizgases durch die Beamtin Jeanine-Denise B. und bezeichnet die Laufrichtung von Mouhameds darauffolgender Reaktion aus der Sackgasse neben dem Kirchenschiff und weg vom Ort, aus dem der Angriff mit Pfefferspray erfolgte, als nachvollziehbar. In dieser standen aber auch Beamt*innen inklusive des Schützen Fabian S. Mouhamed habe bei seiner Bewegung nur auf das Pfefferspray reagiert, es habe keine Angriffsabsicht gegeben. Diese Zurückweisung der polizeilichen Erstdarstellung durch das Gericht und die Richtigstellung des Narrativs von Mouhamed als Angreifer auf die Polizei für dessen Familie ist enorm wichtig.

Anschließend spricht er von dem darauffolgenden Einsatz von DEIGs (Distanzelektroimpulsgeräten, „Tasern“) durch zwei Beamt*innen. Eine Beamtin hatte die falsche Sorte Elektrokartusche eingesetzt, woraufhin der Taser nicht auslöst wurde. Kelm kommentiert hierzu, dass Taser in NRW noch nicht lange im Einsatz und noch nicht täglich erprobtes Einsatzmittel sind – darum sei „das vielleicht ja auch zu entschuldigen“.

Mouhamed habe sich aber noch weiter in Richtung der Beamt*innen bewegt und das Messer auf Höhe der unteren Körperhälfte gehalten. Die Beamt*innen seien von einer Angriffsabsicht ausgegangen.
Um 16:46:42 erfolgten sechs Schüsse von Fabian S., die mit Tötungsabsicht, mindestens Inkaufnahme des Todes („dolus eventualis“) erfolgt seien. Fünf der Schüsse trafen Mouhamed, zwei davon waren todesursächlich. Beamt*innen haben das Messer dann unter Mouhameds Körper gefunden und sichergestellt. Es habe auch Blutanhaftungen aufgezeigt. Das sei ein Indiz, dass er es bis zu diesem Zeitpunkt mit sich geführt habe. Mouhamed wurde in den Rettungswagen gebracht und behandelt. Um 18:02 sei sein Tod festgestellt worden.

Richter Kelm spricht dann über die Beweiswürdigung, erwähnt einige der Zeug*innenaussagen sowie Mouhameds „Einreiseverhalten“. Das Wesentliche der Informationen, etwa „Vortatgeschehen“ und „Antreffsituation“, seien unstreitig. Nur bezüglich Mouhameds Geschwindigkeit nach dem Reizgaseinsatz gebe es widersprüchliche Aussagen. Die Beamten hätten übereinstimmende Angaben gemacht, mit nur wenigen Abweichungen. Zwei Zeugen hatten ausgesagt, Mouhamed sei langsam hinter der Hauswand hervorgekommen, alle anderen beschrieben schnelle Bewegungen. Die Kammer gehe von schnellen Bewegungen aus. Das ergebe sich schon aus der Situation. Mouhamed habe flüchten wollen – dabei gehe man nicht langsam. Allerdings war die Strecke „zu kurz, um schon zu laufen“. Vielmehr habe er sich in einer „Startphase“ befunden, daher auch die von Zeug*innen beschriebene leicht gebückte Haltung.

Kelm spricht weiter über das „Schutzgut der öffentlichen Sicherheit“ und die Frage nach einer konkreten Gefahr. Er urteilt, ein „alsbaldiger Schadenseintritt“ sei zu erwarten gewesen, denn er habe das Messer stichbereit gehalten und sich apathisch verhalten. Auch ex ante sei dies – wie ex post – nicht klar zu beantworten: „Wir wissen nicht, was im Kopf des Herrn Dramé vorging.“

Das „Schutzgut Leben“ sei insofern betroffen gewesen, dass klar eine gegenwärtige Gefährdung gegeben habe. Kelm erklärt, dass Mouhamed mit dem Leben abgeschlossen habe. An der Ernsthaftigkeit bestünden keine Zweifel. Konkreter ginge kaum – „da müsse er sich das Messer schon in den Bauch gestochen haben.“
Demnach bestünde „ganz klar eine gegenwärtige konkrete Gefahr.“ Wenn die Angeklagten nicht eingegriffen hätten, hätte „Dramé“ sich töten können. Dies hätte wiederum möglicherweise auch strafrechtliche Konsqeuenzen für mindestens einen der Beamt*innen haben können.

Zur Notlage urteilt Kelm: Die Kammer sei überzeugt, dass „Herr Dramé keinen Angriff geplant hat. Nachvollziehbar ist durchaus die Fluchtsituation“. Insbesondere sei festzustellen, dass keinerlei Fremdgefährdung zu erkennen sei. Mouhamed habe keine Zeit gehabt, sich Gedanken über einen Angriff zu machen. Es habe bis zum Pfeffersprayeinsatz keine Fremdgefährdung gegeben, dazu habe auch kein Grund bestanden. „Aufgrund der Indizien sind wir überzeugt: Kein Angriff.“, aber ergänzt: „Man kann das möglicherweise anders sehen.“

Er bestimmt auch: „Der Einsatz erfolgte nachvollziehbar zur Überwältigung des Herrn Dramé.“ Bei der Motivlage gäbe es keine Gründe dafür, dass geprüft werden müsse, ob auch andere Gründe in die Entscheidungen der Beamt*innen hineingespielt haben könnten. Aus der Sicht der Taserschützin und des MP5-Schützen waren diese zur Abwendung einer Gefahr erforderlich, denn es bestand aus ihrer Sicht (!) ein Angriff. Herr Dramé habe mit dem Messer auf sie bedrohlich gewirkt.

Er führt dazu aus: „Es kommt nicht darauf an, ob das Messer von oben oder von unten kam“, auch wenn erfahrungsgemäß stärkere Verletzungen erfolgen, wenn das Messer von oben kommt, „was Sie ja etwas komisch beschrieben haben, Herr Kollege“ und bezieht sich auf die Referenz auf den Film „Psycho“ im Plädoyer des Verteidigers Krekeler.

Zur Strafbarkeit der Angeklagten Jeannine-Denise B. und in Bezug auf die Vorwürfe des § 340 Abs. 1-2 Körperverletzung im Amt, Körperverletzung bzw. gefährliche Körperverletzung §§ 223, 224 führt Kelm aus: „Wir haben zumindest eine Körpermisshandlung. Dass es ihn pathologisch irgendwie beeinträchtigt hat, können wir nicht feststellen.“ Zum Tatbestand führt er aus: „Sie wollte ihn verletzten und beeinträchtigen, damit er das Messer fallen lässt.“ Hier greife PolG NRW §8 Absatz 2, konkrete gegenwärtige Gefahr und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Das Pfefferspray sei ein Einsatzmittel mit grundsätzlich geringen Folgen, einer Reizung der Augen. Es habe keine erheblichen Folgen, sei kein erheblicher Eingriff. Es sei erforderlich gewesen „zur Abwehr des Angriffs“.

Hier tut sich für Prozessbeobachter*innen ein erheblicher Widerspruch auf, denn zum Zeitpunkt des Pfeffersprayeinsatzes war nie von einem Angriff die Rede. Möglicherweise war eigentlich der Erlaubnistatbestandsirrtum gemeint, der den Pfeffersprayeinsatz möglicherweise rechtfertigt.

Eine gegenwärtige Gefahr habe vorgelegen, die Verhältnismäßigkeit des Zwangsmittels sei geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne gewesen. Er sagt, dass Pfefferspray in 80-90 % der Fälle Wirkung entfalte. Er bejaht die Geeignetheit und bezeichnet Pfefferspray als ein „Einsatzmittel mit geringen Folgen“ und ergänzt: „Ich hab’ schon von einem Einsatz gehört, der tödlich erfolgte, aber grundsätzlich hat das geringe Folgen.“ Dadurch, dass es keine erheblichen Folgen von Pfefferspray gebe, gebe es auch keinen erheblichen Eingriff. „Haben wir ein milderes Mittel?
Es wurde diskutiert, ob andere Mittel infrage gekommen wären. Nach Ansicht der Kammer wären diese nicht geeignet oder wären zu spät gekommen.“

Im Folgenden bespricht Kelm einige alternative Mittel, die im Laufe des Prozesses diskutiert wurden. Dabei spricht er frei und teils abfällig, als wären diese dumme Ideen. Das SEK etwa habe ganz andere Aufgaben. „Die sind völlig anders ausgerüstet und sind völlig anders trainiert. Die greifen durch, da wird nicht gezögert.“ Wenn das SEK zum Einsatz gekommen wäre, hätte es auf jeden Fall „Gewalt“ gegeben. Man solle auch nicht glauben, dass das SEK sofort da gewesen wären, sondern sich erst hätten am Standort ausrüsten und dann zum Einsatzort kommen müssen. „Die sitzen da nicht wie die Feuerwehr und springen eine Stange runter. Die brauchen ’ne Weile.“

Zum Einsatz eines Polizeihundes sagt er: „Das ist meiner Einschätzung nach völlig absurd. Was macht ein Hund? Das sind Polizeihunde. Die beißen und die beißen feste.“ Er beschreibt, wie das erhebliche Verletzungen hervorrufen kann. „Dann wissen wir aber auch nicht, wie Herr Dramé dann reagiert hätte. Oder dann müssen Sie sich mal vorstellen, was er gemacht hätte, wenn das SEK kommt.“

Zu der Möglichkeit, einen Psychologen und einen Dolmetscher hinzuzuziehen sagt er stark abfällig: „Das geht nicht so schnell.“ Er vergleicht die Situation mit Dolmetschern im Gerichtssaal und deutet damit an, dass diese unzuverlässig seien: „Wir haben es häufig, dass ein Dolmetscher den Termin vergisst. Bis wir den hier haben dauert das auch. Und das nur für weniger Sprachen. Das geht nicht so schnell. Und noch viel weniger schnell geht es mit einem Psychologen. Die Person des Herrn Dramé ist dem doch völlig unbekannt. Was will der erreichen? Meines Erachtens liegt das völlig daneben. Das wäre „ein erheblicher Zeitaufwand.“

Zu der Möglichkeit der Androhung von Zwangsmitteln sagt er: „Die Androhung soll etwas in Gang setzen. Das war hier nicht zu erwarten. Herr Dramé habe aufgrund der psychischen Verfassung ohnehin nicht reagieren können.“ und stellt die Androhung als gänzlich überflüssig dar, da Mouhamed ja auch nicht ansprechbar gewesen sei, und bei §34 ohnehin nicht notwendig. Alles andere sei eine Unterstellung zu Lasten der Angeklagten.

Richter Kelm geht dann zum angeklagten Schützen Fabian S. wegen Totschlags nach § 212 StGB über: „Kommen wir zu Herrn S., das ist ja die Person, um die es hier geht, sonst säßen wir hier ja nicht vor einem Schwurgericht.“ Hier sei es der Erlaubnistatbestand, der zu S. Gunsten greifen würde. „Es geht hier um den Paragraphen 212 [StGB – Totschlag], vorsätzlich, bewusst.“ Es greife zu seinen Gunsten ein Erlaubnistatbestandsirrtum. „Aus seiner Sicht lag ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff vor. Der war auch gegenwärtig, denn von Frau B. war er [Mouhamed] nur zwei Meter entfernt.“ Eine mögliche Rechtfertigung sei also die Nothilfe nach § 32 StGB zugunsten von Frau B. „Rechtlich geschützte Güter sind hier das Leben von Frau B., äh, ’tschuldigung, Frau B.“ (er verwechselt die beiden weiblichen Angeklagten).
Die Schussabgabe sei erforderlich gewesen, andere Mittel nicht erreichbar. Der sofortige Einsatz sei zwingend gewesen. „Es war das einzige Abwehrmittel. Gebotenheit haben wir auch. Wir erkennen hier keine Einschränkung der Notwehr. Die Nähe war aufgrund des Einsatzplans vorgegeben. Es war klar, der musste dahin laufen.“ Alle sechs Schüsse seien gedeckt – „der Angriff ist erst beendet, wenn der Täter [sic!] zu Boden geht.“ Alles das sei für die Kammer nachvollziehbar. Es wurde auch nicht länger geschossen, bis „der Dramé“ zu Boden gegangen sei. Damit sei sich in der Situation eine Notwehrlage vorgestellt worden. Hier handele es sich um einen Tatbestandsirrtum, nach BGH und auch nach der geltenden Lehre – eine Bestrafung wegen Vorsatztat sei nicht möglich. „Fahrlässigkeit“ wäre möglich, das hänge aber von der individuellen Vermeidbarkeit ab. Objektiv sei die Bewegung vom Mouhamed Lamine Dramé als Angriff einzustufen. „Subjektiv wissen wir es nicht. Es waren nur zwei Meter bis Frau B..“ Für die Beurteilung der Lage habe es eigentlich „überhaupt keine Zeitspanne“ gegeben, damit sei das Handeln unvermeidbar und damit auch ein Freispruch richtig.

In Bezug auf die Taserschützin Pia-Katharina B. urteilt Kelm, das die zwei Treffer aus dem DEIG aus Notwehr und im Rahmen des Erlaubnistatbestandsirrtums abgegeben worden seien. Das DEIG sei in der Kürze der Zeit das einzige Abwehrmittel gewesen.

Der Angeklagte Markus B. hatte mit nur einer Patrone aus dem DEIG getroffen. Eine daraus resultierende Körperverletzung sei völlig unerheblich und ergebe „mit Sicherheit keine Freiheitsstrafe“. Es habe ein Motivbündel vorgelegen im Rettungswillen von Mouhamed sowie seiner Kollegin B.
Eine Androhung sei aufgrund der kurzen Zeit nicht möglich gewesen. Auch ein Rückzug aus dem Einsatzfeld sei nicht möglich gewesen. Sofortiger Einsatz sei geboten gewesen.

Abschließend widmet sich Richter Kelm dem Einsatzleiter Thorsten H. Er sagt, eine Verurteilung nach § 357 StGB scheide schon mangels rechtswidriger Vortat aus. Es komme lediglich eine eigene Fahrlässigkeit in Betracht. Dann müsste eine Sorgfaltspflichtverletzung vorliegen.
Es sei Herrn H. alles bekannt gewesen, die Wirkweise der Einsatzmittel, der mögliche Fluchtweg. Infrage stehe bei objektiver Vorhersehbarkeit die Vermeidbarkeit der Anwendung; „Wir haben das natürlich so objektiv und nach umfassender Bewertung begründet. Ex post lässt sich das vielleicht begründen. Und im Nachhinein ist man immer schlauer, insbesondere, wenn man im Gerichtssaal sitzt.“ Wegen der „Kürze der Zeit“ in der Situation sei ein sofortiges Einschreiten nötig gewesen.
Man habe auch gewährleisten müssen, dass bei Fehlschlag Herr Dramé keine Dritten verletzten würde. Es habe sich in der Hauptverhandlung ergeben, dass ein Zurückweichen gefährlich für den Polizeibeamt*innen selbst habe sein können.
Die dichte Aufstellung der Polizeibeamt*innen, die Thorsten H. zwar nicht angeordnet, aber auch nicht beanstandet hatte, diente der geplanten Entwaffnung und dazu, dass Mouhamed dabei nicht „abhaut“ und Dritte verletzt werden könnten. Eine gelockertere Aufstellung sei laut der Kammer unmöglich gewesen, denn dann hätte Mouhamed in den Innenhof kommen und Dritte verletzten können – „Herr Dramé hatte das nicht vor, das ist klar, das wissen wir im Nachhinein.“ In der Situation selbst habe man das aber nicht klar wissen können. So sei auch Sicherungsschütze Fabian S. nicht „anders zu positionieren“ gewesen. Es läge also keine Pflichtverletzung vor und Thorsten H. sei demnach ebenfalls freizusprechen.

Er schließt mit den Worten „Das ist nicht einfach. Das ist auch nicht einfach zu verstehen. Vielen Dank.“

Die 5 Polizist*innen werden so weiterhin ihre Berufe ausüben bzw. im Fall des suspendierten Schützen Fabian S. diesen wiederaufnehmen dürfen und ihren Beamt*innenstatus nicht verlieren.

Der vorsitzende Richter Kelm und die Kammer erheben sich und beginnen, den Saal zu verlassen.
Das Publikum erhebt sich auch und es beginnen Rufe. „Justice for Mouhamed!“. „Das war Mord!“, „Oury Jalloh – das war Mord“, „Ante P. – das war Mord!“. Die Justizbeamten: „Verlassen Sie den Saal, wir räumen den Saal“. Die Justizbeamten fordern die Pressevertreter*innen auf, den Saal zu verlassen. Gerichtssprecherin Nesrin Özal: „Das hat auch einen Sicherheitsaspekt“. Vor den Pressebänken haben sich die Justizbeamten positioniert, die Angeklagten und ihre Rechtsanwälte werden in schnellen Schritten hinausgebracht.

Kurz später kommt Sidy Dramé in Begleitung der Anwältin Lisa Grüter aus dem Gericht mit erhobener Faust und ruft „Justice for Mouhamed!“. Er wird von einer Mahnwache und vielen dutzenden Unterstützer*innen empfangen. Viele weinen und sind entsetzt über die Freisprüche. In den Tagen nach dem Urteil folgen eine Sponti durch die Nordstadt und eine Großdemonstration durch die Dortmunder Innenstadt.

Freisprüche in Dortmund: Keine Gerechtigkeit für Mouhamed.

Urteil wird der Kultur tödlicher Polizeigewalt kein Ende setzen.

Gemeinsame Pressemitteilung zum Prozessende.
Solidaritätskreis Mouhamed und Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.


Heute, am 12. Dezember 2024, wurde nach einem Jahr Prozess gegen fünf Polizist*innen das Urteil verkündet. Diese waren an der Tötung von Mouhamed Lamine Dramé am 8. August 2022 in der Dortmunder Nordstadt beteiligt.

Alle fünf Polizist*innen wurden freigesprochen. Die Verfahrenskosten trägt die Staatskasse.
 
Der Solidaritätskreis und das Grundrechtekomitee sind fassungslos, wütend und traurig. Es geht nicht um die Angemessenheit von Strafe, sondern um das völlige Fehlen einer  Verantwortungsübernahme. Das Gericht billigte mit den Freisprüchen und der Würdigung das Einsatzverhalten aller 5 Beamt*innen., die tödliche Einsatzlogik wurde anerkannt.
Die 5 Polizist*innen, die an dem Einsatz beteiligt waren, werden weiterhin ihre Berufe ausüben dürfen und ihren Beamt*innenstatus nicht verlieren. Eine ernsthafte Entschuldigung und Verantwortungsübernahme durch die Polizei stehen auch nach einem Jahr Prozess weiterhin aus.

„Das heutige Urteil wird nicht dazu beitragen, tödliche Polizeieinsätze in Zukunft zu verhindern. Im Gegenteil, das Urteil ist ein Signal an die Polizei: Ihr könnt weitermachen wie bisher, für tödliche Schüsse drohen keine Konsequenzen“ , kritisiert Britta Rabe, die den Prozess für das Komitee für Grundrechte und Demokratie beobachtet hat..

Anna Neumann, Pressesprecher*in des Solidaritätskreises Justice4Mouhamed kritisiert: „Dieses Urteil wird Geschichte schreiben: Zukünftige Urteile werden sich darauf beziehen. Damit rückt eine selbstkritische Reflexion und Auseinandersetzung mit strukturellem Rassismus seitens der Polizei in weite Ferne. Das ist fatal, denn wir brauchen strukturelle Veränderungen, um weitere Tötungen durch die Polizei zu verhindern.“
Mouhameds Familie fordert, dass so etwas nie wieder passiert. Seit Mouhameds Tod sind jedoch bereits zahlreiche weitere Menschen durch oder in den Händen der Polizei gestorben.
Der Prozess ist durch Ungleichheit gekennzeichnet gewesen. Die Brüder Sidy und Lassana Dramé wurden von der Stadt Dortmund nicht darin unterstützt, dem Prozess beizuwohnen. Dies musste von zivilen Akteur*innen und zahlreiche Spender*innen erstritten werden, welche Visa organisierten sowie die Kosten des Aufenthalts privat finanzierten .Auch das Urteil leistet keine Anerkennung des Leids der Familie und der Belastung durch den Prozess: Mouhamed kam als Mensch nicht vor. Die Entschuldigung des Schützen Fabian S. fand im Zuge seiner PR-Kampagne im Sommer statt, mit der es ihm – erfolgreich – gelang, sein Image aufzubessern. Seinem Exklusivinterview und seinen Aussagen wurde deutlich mehr Gewicht gegeben als den Perspektiven der Familie Mouhameds – was einer Täter-Opfer-Umkehr und der Inszenierung einer Notwehrsituation den Weg bereitete.

Der Kampf um ein würdevolles Gedenken an Mouhamed Dramé, Gerechtigkeit für seine Familie und ein Ende tödlicher Polizeigewalt werden auch nach dem Prozess weitergehen.
Dazu ruft der Solidaritätskreis am 14.12, um 13:12 Uhr, mit dem Startpunkt Katharinentreppen, zu einer Demonstration auf, um das Urteil zu skandalisieren und weiterhin Gerechtigkeit für Mouhamed, seine Familie und Betroffenen von tödlicher Polizeigewalt zu fordern.
No Justice, no Peace.
Kontakte Presse:


Anna Neumann, Solidaritätskreis Justice4Mouhamed:
solidaritaetskreismouhamed@riseup.net

Britta Rabe, Grundrechtekomitee:
brittarabe@grundrechtekomitee.de

Radio Nordpol – Plädoyer der Nebenklage

Das Radio Nordpol hat in diesem Beitrag das Plädoyer der Nebenklage, die Mouhameds Familie vertritt, gegen die fünf angeklagten Polizeibeamt*innen am 4. Dezember 2024 vorlesen hat. Dieses Plädoyer ist eines der wichtigsten Dokumente des einjährigen Prozesses am Dortmunder Landgericht. Es zeigt nicht nur eine ganz andere Sicht auf die Ermittlungsergebnisse, indem es daraufhin weist, dass die angenommene Notwehr der Angeklagten durch sie selbst und ihr eigenes polizeiliches Handeln verursacht wurde. Es zeugt davon, dass die Schuld der Angeklagten dadurch verursacht wurde, dass sie nicht in der Lage gewesen sind, das Leid Mouhameds zu erkennen. Lisa Grüter hat damit zum Schluss des Prozesses eine Diskussion zu strukturellem Rassismus in den Gerichtssaal eingeführt. Sie hat dem Menschen Mouhamed seine Geschichte und seine Würde zurückzugeben und seinen Angehörigen ebenso wie weiteren Betroffenen ihre Trauer.

Hier klicken, um den Inhalt von radio.nrdpl.org anzuzeigen.

Vielen Dank an das Radio Nordpol Team!

Radio Nordpol – Beitrag zum 29. Prozesstag

Am 02.12.2024 fand der 29. Prozess am Dortmunder Landgericht im Fall der Tötung Mouahmed Lamine Dramés statt. Neben den Aussagen der letzten beiden Sachverständigen, hat die Staatsanwaltschaft ihr Plädoyer verlesen.

Vielen Dank an das Radio Nordpol!

Hier klicken, um den Inhalt von radio.nrdpl.org anzuzeigen.

Bericht vom 30. Prozesstag – 04.12.2024

Der 30. Prozesstag in Kürze:

  • Plädoyer der Nebenklageanwältin Lisa Grüter benennt strukturellen Rassismus in polizeilichem Erfahrungswissen und Handeln („shooting bias“), Fehler der Einsatzplanung, Folgen des Angriffs-Narrativs für die Familie Dramé. Für den Strafantrag unterhalb der Grenze zum Verlust des Beamtenstatus für Einsatzleiter H. habe sie „großes Unverständnis“. Sie fordert, anders als die Staatsanwaltschaft, auch für Jeanine B. und Markus B. Konsequenzen, die sich nicht auf Notwehr oder Annahme von Notwehr berufen könnten.
  • Alle fünf Verteidiger plädieren auf Freispruch ihrer Mandant*innen, einhergehend mit Schuldverschiebung auf Sozialarbeiter*innen oder LWL-Personal sowie teils langen Ausführungen über Gefahren für Polizeibeamt*innen und mediale „Vorverurteilung“.
  • Anwalt des Schützen führt Angriffsnarrativ wieder ein und streitet (auch unbewussten) Rassismus im Handeln seines Mandanten ab. Mehrmals fallen durch die Verteidiger rassistische und veraltete Begriffe wie „Ausländerfeindlichkeit“.
  • Schuldentlastung statt Entschuldigung: Im letzten Wort drückt Pia-Katharina B. unter Tränen ihre Trauer über den Einsatz aus – nur um sich dann von den „Rassismusvorwürfen [zu] distanzieren“. Ihre vorhergegangenen Worte wirken so hohl.
  • Urteilsverkündung am 12. Dezember erst um 13 Uhr!

Bericht vom 29. Prozesstag – 02.12.2024

Der 29. Prozesstag in Kürze:

  • Die Staatsanwaltschaft beantragt Freispruch für den Schützen und die drei Beamt*innen, die Mouhamed mit Pfefferspray und Tasern angriffen.
  • Die Freisprüche für die vier Beamt*innen begründet die Staatsanwaltschaft anhand des sogenannten Erlaubnistatbestandirrtums. So gesteht sie den Angeklagten eine fälschlich angenommene Notwehrsituation zu. Sie seien zu der Einschätzung gekommen, dass die fälschliche Wahrnehmung der Polizist*innen, sich in einer Notwehrsituation zu befinden, glaubhaft und plausibel seien.
  • Für den Einsatzleiter beantragt die Staatanwaltschaft 10 Monate Freiheitsstrafe, welche auf zwei Jahre Bewährung und eine Geldstrafe von 5.000€ an eine gemeinnützige Einrichtung der Jugendhilfe in Dortmund, ausgesetzt werden kann.
  • Der Einsatzleiter wird für die Verleitung von Untergebenen im Amt zu gefährlicher Körperverletzung und fahrlässiger Tötung für schuldig befunden.
  • Die Staatsanwaltschaft benennt ganz deutlich, dass sich die Polizist*innen am 8.8.22 NICHT in einer Notwehrsituation befanden! Sie erkennt an, dass Mouhamed aus der Ecke und in Richtung der Polizist*innen ging, weil es der einzige Ausweg für ihn war – und NICHT um die Polizist*innen anzugreifen!
  • Aufgrund dieser klaren Einschätzung der Situation – eine statische, welche durch das Vorgehen der Polizei eskaliert wurde – sind die geforderten Freisprüche für die Angeklagten umso skandalöser! Denn es nimmt jegliche Verantwortung für das tödliche Geschehen von den Angeklagten. Und setzt ein klares Zeichen in Richtung der Polizei, dass jegliches falsches, brutales/gewalttätiges/tödliches Verhalten mit einer irrtümlichen Notwehrsituation gerechtfertigt werden kann.
  • Das geforderte Strafmaß für den Einsatzleiter erschüttert angesichts der Tatsache, dass sie ihm sehr klar die Verantwortung für den tödlichen Ausgang dieses Einsatzes zuschreiben. Er habe „salopp formuliert stumpf den ersten Plan von der Holsteinerstraße [Ort der Einsatzbesprechung] umgesetzt“ und ihn nicht erneut den gegebenen/örtlichen Umständen angepasst.
  • Zu Beginn des Plädoyers stellt die Staatsanwaltschaft den Prozess in den Kontext des öffentlichen Interesses. Dabei bedient sich der Oberstaatsanwalt der Hufeisentheorie, indem er linke Kritik an dem Einsatz und rassistische, rechte Hetze gegen Mouhamed gleichsetzt.
  • Vor dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft wurden die letzten beiden Zeugen vernommen. Ein Dolmetscher aus der LWL-Klinik, welcher Mouhameds Gespräch mit der Therapeutin am 7.8.22 übersetzte und ein Polizeibeamter der Polizeihochschule Köln waren geladen.
  • Das Verhalten des Richters Kelm gegenüber dem geladenen Dolmetscher war von Herabwürdigungen geprägt. Ungeduldig unterbrach er ihn mehrmals und erhob sehr laut seine Stimme gegen ihn, wenn ihm genannte Details des Zeugen unwichtig erschienen. Dem Zeugen war wichtig zu betonen, wie traurig Mouhamed in dem damaligen Gespräch wirkte. Am Ende seiner Befragung wollte er noch erzählen, dass Mouhamed zum Ende des Gesprächs ein Foto seiner Mutter auf dem Handy zeigte, was ihm wichtig war. Wirsch unterbrach Richter Kelm den Zeugen abermals, mit der Begründung, dass die Befragung zu Ende sei und ließ den Zeugen nicht mehr ausreden.

Bericht vom 28. Prozesstag – 26.11.2024

Im folgenden Bericht werden die Taten der angeklagten Polizist*innen benannt.

Info für Rollifahrer*innen: Beim heutigen Prozesstag haben wir erstmals erfahren, wie der Zugang für Menschen mit Rolli funktioniert. Dafür klingelt mensch frühzeitig vor Prozessbeginn an der Klingel beim Aufzug auf der rechten Seite des Gerichtsgebäudes vom Haupteingang aus (Kaiserstraße 34 – dort gibt es Parkplätze sowie wenige hundert Meter entfernt einen rollstuhlgerechten Aufgang aus der U-Bahn-Station „Ostentor“). Über diesen Eingang kommt man zur Sicherheitskontrolle hinter dem Haupteingang, wo es eine „Flughafenkontrolle“ gibt, und dann über Aufzug und Treppenlift zum Saal 130. Auf dem Weg gibt es eine rollstuhlgerechte Toilette. Es ist möglich, eine Begleitperson mitzubringen, was sich auch empfiehlt, da die Brandschutztüren im Gebäude, in dem mensch sich sonst ohne Begleitung bewegt, nicht automatisch sind. Im Gerichtsaal gibt es einen Rolliplatz zwischen den Sitzbänken. Wir wollen alle Menschen zur Teilnahme ermutigen und können auch für Begleitung und mehr Infos kontaktiert werden unter solidaritaetskreismouhamed@riseup.net oder über Instagram.

In Kürze:

  • Richter zieht Heruntersetzung der Anklagepunkte von Vorsatz auf Fahrlässigkeit wegen „Erlaubnistatbestandsirrtums“ bei drei der fünf Angeklagten als möglich an.
  • Die verbleibenden drei (!) Termine sind 2., 4. und 12. Dezember je ab 9:30.

Der heutige Prozesstag beginnt mit fast einer Stunde Verspätung und dauert wenige Minuten.

Beim Termin in der letzten Woche hatte die Staatsanwältin angeregt, eine Heruntersetzung der Anklagen aller fünf Angeklagten von vorsätzlichem auf fahrlässiges Handeln in Erwägung zu ziehen, was erheblich geringere Strafen zur Folge hätte. Darüber hatte Richter Kelm angekündigt heute zu entscheiden. Dafür verliest er einen Entscheid.

Hinsichtlich des angeklagten Einsatzleiters Thorsten H. sieht die Kammer keine Irrtumsmöglichkeit nach „Erlaubnistatbestandsirrtum“, also der irrigen Annahme einer Notwehrlage, da Mouhamed zum Zeitpunkt der Einsatzplanung und der Befehle ruhig saß und unansprechbar war. In diesem Fall käme eine eigene Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nach § 229 und § 222 Strafgesetzbuch (fahrlässige Körperverletzung und fahrlässige Tötung) wegen unzureichender Planung des Einsatzes in Betracht. Richter Kelm bezeichnet den Ausgang der Einsatzplanung als „eine Frage der Vorhersehbarkeit“. Allerdings würde, wenn die Handlungen der ihm untergebenen Beamt*innen nicht als Straftaten beurteilt werden, auch bei H. keine Anstiftung zu solchen mehr vorliegen.

Auch hinsichtlich der Angeklagten B., die Pfefferspray auf den ruhig sitzenden Mouhamed abgab, gebe es keine Möglichkeit des Irrtums über eine Notwehrlage. Es käme aber eine Rechtfertigung nach §34 StGB (Strafgesetzbuch) infrage, in dem der rechtfertigende Notstand festgelegt ist, in diesem Fall wegen der Abwendung von Suizidgefahr; ebenso § 8 bzw. § 59 PolG NRW (Polizeigesetz Nordrhein-Westfalen), welche die allgemeine Befugnis der Polizei sowie das Anwenden unmittelbaren Zwangs erlauben (§ 59 PolG beinhaltet allerdings auch das Verbot, rechtswidrige Anordnungen zu befolgen und die Pflicht, Bedenken an der Rechtmäßigkeit einer Anordnung mitzuteilen („Remonstrationspflicht“), was durch Richter Kelm unerwähnt bleibt).

Hinsichtlich der anderen drei Beamt*innen B., B. und S. bestätigt Richter Kelm, dass, auch wenn keine tatsächliche Notwehrlage festgestellt wird, die Möglichkeit in Betracht käme, die Anklagen auf Fahrlässigkeit herunterzusetzen, da die drei Beamt*innen sich im Moment der Schussabgabe durch zwei Taser und die Maschinenpistole, in denen Mouhamed sich auf sie zubewegt haben soll, wenn auch möglicherweise irrtümlich, in einer Notwehrlage gesehen haben könnten (“Erlaubnistatbestandsirrtum”). Bei den beiden Taserschütz*innen würde dann über fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB), beim MP5-Schützen Fabian S. um fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) entschieden werden, statt wie bisher um den Vorsatz dazu.

Richter Kelm trägt abschließend frei vor: „Der Hinweis wurde damit erteilt. Gerade zur Notwehrlage… was im Kopf des Geschädigten vorging, wissen wir nicht. Wir wissen nicht, warum er aus der Ecke rannte [sic]. Die Rechtsprechung macht hier in dubio für den Angeklagten – was ich zweifelhaft finde. Danach könnten wir hier Notwehr annehmen. In jedem Fall ist das so, dass die Angeklagten sich eine Notwehrlage vorgestellt haben, nach den Grundsätzen des Erlaubnistatbestandsirrtums, Herr Dramé wollte sie mit dem Messer angreifen. Das ist nach dem Antrag der Staatsanwaltschaft zu prüfen. Die Rechtsprechung zumindest ist, dass der Vorsatz dann nicht gegeben ist und es auf die Vermeidbarkeit des Erlaubnistatbestandsirrtums auf subjektiver Ebene ankommt.“

Weder Nebenklage noch Verteidiger haben hierzu Anmerkungen.

Richter Kelm informiert, dass am nächster Termin (2. Dezember ab 9:30) die letzten beiden Zeugen und das Plädoyer der Staatsanwaltschaft gehört werden.

Die Nebenklage wird am 4. Dezember ihr Plädoyer halten. Hier wird ein weiterer Termin, ebenfalls mit Beginn um 9:30, stattfinden.

Zuletzt verliest Richter Kelm die Bundeszentralregistereinträge der fünf Angeklagten, die allesamt ohne Einträge sind, vor.


Richter Kelm schließt die Sitzung nach knapp 10 Minuten.

Wir freuen uns auch beim kommenden Termin und insbesondere bei den wohl letzten Prozesstagen am 2., 4. und 12. Dezember sehr über solidarische Unterstützung, ob im Gerichtssaal oder an der Mahnwache vor dem Haupteingang.

How to: Prozessbegleitung

*English Version below*

Kommt früh! Wer einen Platz im Gericht möchte, sollte deutlich früher anstehen.
Einlass für Besucher*innen ist der Hintereingang: Hamburger Straße 11 (direkt am Ausgang der U-Bahn Ostentor).
Die Mahnwache bietet heiße Getränke und am 2.12 & 12.12. auch WC-Möglichkeiten an.
Es gibt beim Einlass KEINE Personalienkontrolle (mehr)!
Es gibt eine “Flughafenkontrolle”, Gepäck muss durch eine Schleuse und Personen durch einen Metalldetektor gehen.

    Einige Dinge (Elektrogeräte, Essen, Getränke) müssen abgegeben werden.
    Mit in den Saal genommen werden dürfen etwa Bonbons, Kaugummis, manchmal Wasser in Plastikflaschen, Jacken, Schreibsachen.
    Im Gericht sind Kopfbedeckungen, die keinen religiösen Hintergrund haben, sowie T-Shirts mit politischen Aussagen, in der Vergangenheit verboten worden. Dazu zählen auch (unverdeckt getragene) T-Shirts mit Mouhameds Gesicht.

    Im Anschluss an den Gerichtsprozess kann sich an der Mahnwache vor dem Gericht (Kaiserstraße 34) getroffen und ausgetauscht werden.
    Keine*r wird mit dem Erlebten alleingelassen!
    Der Solidaritätskreis J4M ist jederzeit ansprechbar, wenn Unterstützung gebraucht wird. Auch z.B. eine Simultanübersetzung in verschiedene Sprachen kann vorab oder spontan bei uns angefragt werden.

    Jede solidarische Person zählt – bring your friends!

    Arrive early! If you want to get in, you should line up significantly earlier
    Admission for visitors is at the rear entrance, Hamburger Straße 11 (directly at the exit of the ‘Ostentor’ subway station).
    We offer hot drinks and toilet facilities (02.&12.12.).
    There is NO identity check at the entrance (anymore)!
    There is an “airport control”, luggage is screened and people have to go through a metal detector.
    Some items (electrical appliances, food, drinks) must be left at the entrance. Items such as cough drops, chewing gum, sometimes water in plastic bottles, jackets and writing materials can be taken into the courtroom

    In the past, headwear with no religious background and shirts with political statements have been banned in court. This also includes (uncovered) shirts with Mouhamed’s face.
    After the trial, people can meet and exchange at the vigil in front of the court (Kaiserstraße 34).
    No one’s left alone!
    We can be contacted at any time when support is needed. For example, simultaneous translation into different languages can be requested from us in advance or spontaneously.

    Every person counts – bring your friends!

    Radio Nordpol – Beitrag zum 27. Prozesstag

    An diesem Prozesstag wurde ein Interview, welches der Hauptangeklagte Fabian S. dem WDR im Sommer gegeben hatte, im Gerichtssaal gehört. In dem Radiobeitrag werden die Inhalte der abgespielten Podcast-Folge und dessen Relevanz für den Prozess analysiert. In einem Interview beleuchtet der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed aus medienwissenschaftlicher Perspektive den WDR-Podcast.

    Zum Ende des Verhandlungstages äußerte die Staatsanwaltschaft eine unerwartete neue Einordnung des Tatgeschehens. Wir haben mit der Anwältin Lisa Grüter dazu gesprochen.

    Vielen Dank an das Radio Nordpol!

    Der Link zum Radiobeitrag:

    Hier klicken, um den Inhalt von radio.nrdpl.org anzuzeigen.

    Bericht vom 27. Prozesstag – 18.11.2024

    Der folgende Bericht gibt die Perspektive des Schützen wieder, der Mouhamed Dramé tötete.

    Der 27. Prozesstag, der ein Ersatztermin für den entfallenen Termin am 4. November ist, befasst sich mit der Folge des WDR-Podcasts “Mouhamed Dramé – Wenn die Polizei tötet”, in der der Schütze Fabian S. spricht. Sein fast einstündiges Interview in der Podcastfolge wird vom Gericht als seine Aussage vor Gericht am 22. Mai diesen Jahres zusätzliche Einlassung (“Aussage”) gewertet und zu diesem Zweck am heutigen Verhandlungstag vollständig im Gerichtssaal abgespielt. Vor Ort sind einige Besucher*innen, Presse, darunter auch die beiden WDR-Mitarbeitenden, die den Podcast produziert haben, als Prozessteilnehmende wie immer Fabian S. und die anderen Angeklagten sowie die Brüder Sidy und Lassana Dramé. Im Anschluss an das Hören, kurz vor Ende des kurzen Prozesstags noch eine überraschende Wortmeldung der Staatsanwältin Yazir: Eine Änderung des Strafmaßes für alle fünf Angeklagten wird erwogen. Bei allen fünf Angeklagten könnte von fahrlässigem statt vorsätzlichem Handeln ausgegangen werden. Damit könnte das Strafmaß deutlich geringer ausfallen.

    Wie so oft beginnt die Verhandlung auch heute mit Verspätung gegen 10:10. Der versammelte Saal wartet zuletzt auf Verteidiger Brögeler, der noch ohne Robe hereinstürmt.

    Für das Anhören des Podcasts nutzt das Gericht wie sonst selten den großen Bildschirm, der hinter dem Richterpult angebracht ist. Unmittelbar nach Beginn der Verhandlung wird die Folge gestartet (die Folge gibt es zum Anhören hier: https://www.ardaudiothek.de/episode/mouhamed-dram-wenn-die-polizei-toetet-wdr-lokalzeit/folge-7-der-schuetze/wdr/13539125/). Über die Dauer der Folge ist es im Saal ruhig. Die Simultanübersetzung des Übersetzers für Sidy und Lassana Dramé ist leise zu hören.

    Die Podcastfolge bietet dem Schützen Fabian S., einem jungen Polizeibeamten, etwa eine Stunde Zeit, sich selbst, seine Lebenssituation, seinen Blick auf den Einsatz am 8. August 2022 sowie die „Belastung für ihn und seine Familie” durch die gesellschaftliche Aufmerksamkeit und den Prozess darzustellen. Er will zeigen, dass (auch) er ein Mensch ist und ihn das Getane bewegt. Zu Anfang des Interviews formuliert er, dass er „der Nebenklage nicht so ganz die Deutungshoheit überlassen” will. Er berichtet, wie gerne er wieder arbeiten würde, ist aber seit dem Einsatz, als einziger der fünf Angeklagten, „freigestellt”, also bei vollen Bezügen nicht arbeitend. Stattdessen, so im Podcast, renoviere er Haus und Garten seiner Familie.

    Stellenweise spricht Fabian S. depersonalisiert von Getanem; etwa im Moment der Schüsse schwenkt er von der Ich-Erzählung ins anonyme „man”. Über die Anzahl der Schüsse sagt er, er habe so lang geschossen, bis Mouhamed „zum Stillstand gekommen” sei.

    Er sagt, der Rassismus-Vorwurf gegen ihn „tat weh”, und dass glücklicherweise zumindest seine Freunde sich einig waren, dass sein Handeln im Einsatz „nichts mit Rassismus zu tun” gehabt habe. Er denke im Einsatz nicht über Hautfarbe nach, es sei ihm ganz im Gegenteil in seiner Arbeit in der Nordstadt wichtig, alle fair und gleich zu behandeln. Aus seiner Sicht erzählt scheinen diese Kritiken ihn zu verkennen, verletzen.

    Auf die Frage nach Zweifeln am Einsatz verweist er auf die Entscheidungsstrukturen und die Rolle seines Einsatzleiters, dem Mitangeklagten Thorsten H. Nie aber führt er seine Kolleg*innen oder den Vorgesetzten vor, er nimmt sie eher in Schutz.

    Die tödliche Folge seiner Schüsse tue ihm leid, bereuen würde er sein Handeln aber nicht – denn: wenn er nicht auf Mouhamed geschossen hätte, hätte dieser Kolleg*innen verletzten können, unter Umständen tödlich – und damit hätte er noch schlechter leben, sich das nie verzeihen können. Er wünscht sich abschließend „nicht mehr so viel böses Blut”, offen bleibt, ob gegen ihn persönlich, auch gegen seine Mitangeklagten, oder die Polizei insgesamt. Eigene Umgänge, wie eine organisierte Reflexion des Einsatzes oder Veränderungen der Polizei, nennt er nicht.

    Im Ausklingen der Podcastfolge stoppt Richter Kelm die Aufnahme.

    Da es sich um keine Aussage im herkömmlichen Sinne handelt, folgen keine Fragen an Fabian S.

    Stattdessen ergreift Staatsanwältin Yazir das Wort: Die Angeklagten sollen darüber belehrt werden, dass die Staatsanwaltschaft eine Heruntersetzung der Anklage von Vorsatz auf Fahrlässigkeit in Bezug auf ihre jeweiligen Handlungen im Einsatz erwägt. Es könne sich, so Yazir, bei ihrem Handeln um einen Erlaubnistatbestandsirrtum gehandelt haben: Die Beamt*innen seien fälschlich von einer Notwehrsituation ausgegangen und haben dementsprechend gehandelt. In diesem Fall könnte das Strafmaß für die Angeklagten so viel geringer ausfallen, dass anders als beim Vorsatz nicht mit Konsequenzen für ihre berufliche Zukunft zu rechnen wäre. Richter Kelm lässt diesen Einwurf bezüglich einer eventuellen Neubewertung noch unkommentiert und will beim kommenden Prozesstag in der nächsten Woche darüber entscheiden.

    Richter Kelm schließt mit der akustisch kaum verständlichen Information, dass der kommende Prozesstag, der 26. November, wegen der Anreise einer Schöffin statt um 14 Uhr erst um 15 Uhr beginnt. Dieser Termin solle wohl nur etwa eine halbe Stunde dauern. Für den darauffolgenden Termin, den 2. Dezember, seien die zwei vorerst letzten Zeug*innen geladen.
    Gegen 11:10 endet die Verhandlung.

    Wir freuen uns auch beim kommenden Termin und ganz insbesondere bei den beiden wohl letzten Prozesstagen am 2. und 12. Dezember sehr über solidarische Unterstützung, ob im Gerichtssaal oder an der Mahnwache vor dem Haupteingang.