Bericht vom 3. Prozesstag – 17.01.2024

Mit dem dritten Prozesstag beginnt nun, knapp vier Wochen nach Prozessbeginn, die inhaltliche Erörterung der Tat vom 8. August 2022. Wir erleben dabei einen wohl entscheidenden Prozesstag, an dem erstmals in der gerichtlichen Hauptverhandlung Wesentliches öffentlich wird.

Nach der Entscheidung über einen Antrag der Nebenklage werden die ersten beiden Zeugen befragt – beides Mitarbeiter der Jugendhilfeeinrichtung, in der Mouhamed Dramé nach kurzem Aufenthalt am 8. August 2022 durch die Dortmunder Polizei getötet wurde.

Hinweis: Die Zeugenaussagen im folgenden Text beschreiben die Tat im Detail.

Der dritte Prozesstag in Kürze:

Wir sind erneut mit einer Mahnwache vor dem Landgericht präsent, im Saal sind viele solidarische Prozessbegleiter*innen.

Die richterliche Auflage zu Vorlage und Scannen der Personalausweise beim Einlass ins Gericht wurde ausgesetzt. Weitere organisatorische Hürden und Unklarheiten (z.B. Barrierefreiheit, Toilettensituation) bleiben bestehen.

Der Teamleiter der Jugendhilfeeinrichtung wird als erster Zeuge befragt. Er berichtet, dass Mitarbeitende der Einrichtung Mouhamed am Nachmittag des 8. August 2022 „ganz klar mit der Absicht der Selbstverletzung” vorgefunden haben. Dies kommunizierte er, wie auch der später gehörte Zeuge, der Polizei deutlich. Zu Beginn des Notrufgesprächs wird dem Zeugen auf Nachfrage hin bestätigt, mit dem Notruf bei der Polizei an der richtigen Stelle zu sein. Laut seinen Aussagen „ging dann alles ganz schnell”. Er bezeugt, dass Mouhamed nach den Schüssen Handschellen angelegt worden seien, die erst kurz vor Eintreffen der Rettungskräfte wieder abgenommen worden seien.

Der zweite Zeuge, ein Betreuer der Einrichtung, welcher in den Tagen zuvor persönlichen Kontakt zu Mouhamed hatte, wohnte der bisher nur medial bekannten Einsatzbesprechung bei: In dieser gab der Einsatzleiter Thorsten H. den mehrstufigen Einsatzplan vor: Ansprechversuch, Einsatz von Pfefferspray, dann von Tasern – und letztlich die Schussabgabe mit der Maschinenpistole. Zum Schützen Fabian S. soll er dabei gesagt haben: „Du bist unsere Last Chance, unser Last Man Standing”. Der Zeuge berichtet weiter, dass Mouhamed nach Einsatz des Pfeffersprays langsam und „eher desorientiert” wirkend mit herunterhängenden Armen aus der Nische des Hinterhofs hervorgekommen sei. Infolge der Schüsse habe Mouhamed mit „schmerzverzerrtem Gesicht” am Boden „vor Schmerzen gejohlt” und sich unter der Fixierung mit Handschellen gewunden. Einsatzleiter H. sei dann an Mouhamed herangetreten und habe ihm mit den Worten „Wird alles gut” einen leichten Tritt in den Bauch versetzt.

Beide Zeugen müssen, von bis zu 15 anderen Prozessbeteiligten umringt, vor den Richtertisch treten, um auf in den Akten befindlichen Fotos die Positionierungen der Beamten aufzuzeigen. Die Befragung zum Tatgeschehen sowie diese bedrängende Situation setzen dem zweiten Zeugen emotional sichtlich zu. Gefragt nach den Gründen eröffnet er: Der 8. August 2022 und das Gesehene seien „eines der schlimmsten Erlebnisse” seines Lebens. Die Befragung wird daraufhin unterbrochen und soll beim übernächsten Prozesstermin am 21. Februar fortgesetzt werden.

Für den 31. Januar ist ein kurzer Prozesstag mit Verlesung von Beweismitteln aus der Akte vorgesehen.

Ausführlicher Bericht vom 3. Prozesstag:

Mittwochmorgen, 17. Januar 2024. Wie schon bei den ersten beiden Prozesstagen ist der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed vor dem Haupteingang des Landgerichts mit einer Mahnwache präsent, auf der anderen Seite des Gebäudes bildet sich bereits ab 8 Uhr eine Schlange vor dem Hintereingang zum Gerichtssaal 130. Wieder warten viele Besucher*innen auf Einlass zum Gericht. Nach drei Prozesstagen gibt es mittlerweile etliche bekannte Gesichter: Viele davon sind solidarische Besucher*innen, aber auch Angehörige und Unterstützende der angeklagten Polizist*innen sind mittlerweile zuzuordnen. Eine Entwicklung heute: Die richterliche Auflage zur Vorlage sowie zum Scannen der Personalausweise in der Sicherheitskontrolle wurde ausgesetzt – ab jetzt können Menschen auch ohne Abgabe persönlicher Daten in den Saal.

Leider erhalten erneut nicht alle Anstehenden Zugang zum Saal. Wer einen Platz will, muss weiter eine halbe Stunde bis Stunde vor Prozessbeginn vor dem Einlass anstehen. An allen drei Prozesstagen zeigte sich, dass sowohl die Prozessbeteiligten als auch das Publikum mehrheitlich weiß gelesen sind. Für die kommenden Termine wollen wir – soweit es in unserer Macht steht – von Rassismus betroffenen Menschen, die am Prozess teilnehmen wollen, vorrangigen Zugang ermöglichen. Hierfür bauen wir im Moment eine Struktur auf. Meldet euch gerne bei uns, wenn ihr euch für den Prozess interessiert, euch aber vielleicht nicht alleine den äußeren und emotionalen Umständen stellen wollt oder könnt.

Weiterhin bleibt die Frage nach barrierefreiem Zugang zum Saal im zweiten Stock, so die Pressedezernentin Nesrin Öcal, “ein nicht geregelter Fall“. Auch kann, wer als Besucher*in den Saal während des laufenden Prozesstages z.B. zum Toilettengang verlassen muss, nicht wieder in den Saal zurückkehren.

Antrag der Nebenklage zum öffentlichen Zeigen der Beweismittel

Aufgrund erneut knapp geplanter Einlasszeiten beginnt der Sitzungstag mit mehr als einer halben Stunde Verspätung um kurz nach 10:00 Uhr.

Der vorsitzende Richter Kelm scheint die Kritik der ersten Prozesstage vernommen zu haben: Er scheint erstmals bemüht darum, dass er beim Sprechen durch das Mikrofon für alle im Saal hörbar ist. Er gibt einen groben Überblick über den weiteren prozessualen Ablauf.

Gleich zu Beginn des Tages beantragen Prof. Dr. Thomas Feltes und Lisa Grüter im Namen der Nebenklage, dass Dokumente wie etwa Fotos und Abbildungen aus der Akte ab sofort nicht mehr nur am Richtertisch, sondern etwa an dem im Saal vorhandenen Bildschirm allen Anwesenden gezeigt werden. Prof. Dr. Feltes, der den mehrseitigen Antrag vorträgt, begründet dies damit, dass nur so die vollumfängliche Beteiligung aller Verfahrensbeteiligten gegeben sei – außerdem hätten so auch anwesende Presse und Besucher*innen die Möglichkeit, den Prozess mitzuverfolgen, wodurch eine Kontrolle der richterlichen Handlungen gegeben sei, das Vertrauen in die Rechtspflege gestärkt und eine Transparenz des letztendlichen Urteils hergestellt würde. Darüberhinaus könne sich ansonsten ein Revisionsgrund ergeben. Letztlich würde so auch dem enormen öffentlichen und medialen Interesse an dem Fall Rechnung getragen.

Unmittelbar widerspricht Oberstaatsanwalt Dombert dem Inhalt des Antrags. Richter Kelm verkündet daraufhin, dass sich die Kammer, nach nur einer Viertelstunde Prozess, nun für eine Dreiviertelstunde zur Beratung über den Antrag zurückziehen müsse. Eine weitere Verzögerung ergibt sich, weil eine der Schöffinnen in einem parallel stattfindenden Prozess am Landgericht einspringen muss – kurzerhand wird die Sitzung bis 12:00 Uhr unterbrochen. Die eigentlich zwecks Verwahrung von Gegenständen ausgeteilten Zettel mit Nummern werden, nach kurzer Unklarheit, seitens der Gerichtssprecherin zu Einlasskarten umfunktioniert.

Gegen 12:15 geht es im Gerichtssaal dann weiter. Richter Kelm verliest den in der Pause getroffenen Beschluss der Kammer: Der Antrag der Nebenklage wird abgelehnt. Alle formal Prozessbeteiligten hätten ohnehin Einsicht in die entsprechenden Bilder, eine Präsentation und Erörterung in der öffentlichen Hauptverhandlung sei über das Zeigen am Richtertisch hinaus rechtlich nicht erforderlich. In der Strafprozessordnung sei nicht vorgesehen, dass Zuschauende sowie die Presse Lichtbildbeweise in Augenschein nehmen können – dies stelle also keinen Revisionsgrund dar. 

Neben dem begrenzten Einlass zum Saal beschneidet dies aus unserer Sicht als Prozessbesuchende den Öffentlichkeitsgrundsatz zusätzlich und ignoriert die große Aufmerksamkeit, die auf diesem Gerichtsprozess sowie der Tötung Mouhamed Dramés liegt.

Erste Zeugenbefragungen und Verlesung des Notrufmitschnitts

Anschließend beginnen die Befragungen zweier junger Sozialarbeiter, die zur Tatzeit Dienst in der Jugendhilfeeinrichtung St. Elisabeth der katholischen St. Antonius Gemeinde leisteten. 

Der Teamleiter der Jugendwohngruppe, Herr G., berichtet, Mouhamed sei am Nachmittag des 8. August “ganz klar mit der Absicht der Selbstverletzung” im Hinterhof der Einrichtung vorgefunden worden. Nachdem Mouhamed auf Ansprachen mehrerer Mitarbeitender – persönlich sowie mithilfe einer digitalen Übersetzungsanwendung – keine Reaktion gezeigt habe, habe man die Entscheidung getroffen, die Polizei zu verständigen. Er sei hierfür in die Einrichtung zum Haustelefon gegangen, sei dort am offenen Fenster stehen geblieben und habe durch dieses mit seinen Kolleg*innen im Hinterhof kommuniziert sowie die Polizeinotrufstelle fortlaufend über die von ihm aus dieser Position zu überblickende Situation informiert.

In Anwesenheit des Zeugen G. verliest der Richter die polizeiliche Abschrift dieses knapp 20-minütigen Gesprächs und stellt dabei immer wieder Zwischenfragen – die Tonaufnahme selbst soll zu einem späteren Verfahrenszeitpunkt abgespielt werden.

Zeuge G. berichtet weiter, er habe gleich zu Anfang des Telefonats die Situation sowie Mouhameds Verfasstheit geschildert– und dann gefragt, ob er hier (bei der Polizei) oder eher beim Notarzt richtig sei. Die knappe Antwort: „Da sind Sie auf jeden Fall bei uns richtig.”

Am Telefon berichtet Herr G., Mouhamed habe sich “in einer Ecke [des Hinterhofs] versteckt”, aus der es nur einen Ausweg gebe. Er berichtet weiter, dass Mouhamed ein einfaches Küchenmesser bei sich habe, das er gegen seinen nackten Bauch halte. Er erwähnt Mouhameds kurzen Aufenthalt in der LWL-Klinik am Wochenende zuvor, aus der er aber entlassen worden sei, weil seine Situation als nicht akut eingestuft worden sei. 

Herr G. berichtet, dass er den darauffolgenden Polizeieinsatz aus einiger Entfernung zum Geschehen durch das Fenster eines Büros verfolgt habe, von dem aus er die meisten Beamt*innen, nicht aber Mouhamed selbst, gesehen habe. Zwei Zivilpolizist*innen sondierten seiner Aussage nach erst die Lage, seien dann aber wieder verschwunden und mit den restlichen Einsatzkräften in Uniform zurückgekommen. Die Polizist*innen in Zivil habe er selbst nicht als Polizist*innen erkennen können. Als dann die uniformierten Beamt*innen Position bezogen hätten, habe er eine kurze Unruhe unter ihnen vernommen – „dann“, so G., „ging alles ganz schnell”. Mouhamed habe er erst wieder gesehen, als dieser nach Einsatz des Reizgases hinter der Mauer hervorgekommen sei. Am Telefon sagte er erschrocken: „Ach du meine Güte. Wird der getasert, der Arme?”. Er berichtet, wie er beobachtete, dass Mouhamed unmittelbar danach von mehreren Schüssen getroffen zu Boden ging – just in diesem Moment wird der Notruf seitens der Polizei abrupt beendet. Er habe noch gehört, wie jemand von den Beamten auf Deutsch „Liegenbleiben!” gerufen habe – dies sei die einzige geäußerte Ansprache Mouhameds gewesen, die er deutlich vernommen habe.

Mouhamed sollen dann Handschellen angelegt worden sein, die erst kurz vor Eintreffen der Rettungskräfte im Hof wieder abgenommen worden seien.

Nach Verlesen des Notrufprotokolls wird Zeuge G. schließlich aufgefordert, an den Richtertisch zu treten und die beschriebene Situation auf Fotos in der Akte zu verorten. Die Schöff*innen sowie einige der Anwält*innen stehen auf, sodass letztlich 15 Menschen den Zeugen umringen und versuchen, zugleich einen Blick auf das Blatt zu erhalten.

Da ein Dokument, eine 3D-Rekonstruktion des Blickfeldes des Herrn G., fehlt bzw. auf Anhieb nicht von Richter Kelm in den Akten gefunden wird, wird der Zeuge noch nicht aus dem Zeugenstand entlassen. Seine Vernehmung soll beim übernächsten Prozesstermin am 21. Februar fortgesetzt werden.

Anschließend wird der zweite Zeuge, Mitarbeiter Herr P., befragt. Dieser berichtet, er habe Mouhamed in der Woche vor dem 8. August 2022 kennengelernt. Er beschreibt ihn als fröhlichen Fußballfan – noch am Freitagabend in der Woche vor seinem Tod habe man gemeinsam auf den Sofas der Einrichtung Fußball geschaut. Mouhamed sei darüber hinaus zum Fußballspielen nahe des nicht weit entfernten Borsigplatzes gegangen. 

Ab Samstagmorgen sei er dann „nicht so gut drauf” gewesen, habe wohl am Samstagabend seine Tasche gepackt und gesagt, er könne nicht weiter in der Einrichtung verbleiben. Später habe jemand aus der LWL-Klinik in Aplerbeck in der Einrichtung angerufen und Mouhamed sei von dort mit einem Taxi zurück in die Einrichtung gebracht worden.

Am Nachmittag der Tat hätten Mitarbeitende und Jugendliche auf der Terrasse der Einrichtung gesessen, als einer der Jugendlichen von einem Passanten, der Mouhamed durch den Zaun zur Missundestraße neben der Kirchmauer kauernd entdeckt hatte, angesprochen worden sei. Mehrere Mitarbeitende hätten dann etwa fünf Minuten lang versucht, Mouhamed anzusprechen. Als dann Herr G. den Notruf getätigt habe, ist Zeuge P. laut seiner Aussage auf Bitten der Notrufleitstelle an die Straße vor der Einrichtung geschickt worden, um die Polizei in Empfang zu nehmen.

Dort habe er noch einmal Mouhameds Krisensituation am Wochenende sowie dessen Sprachkenntnisse geschildert. In den folgenden Minuten habe dann in seiner Anwesenheit die Einsatzbesprechung der Beamt*innen stattgefunden, die der Zeuge vor Gericht eindrücklich schildert. Der Einsatzleiter, Angeklagter Thorsten H., habe dort den mehrstufigen Einsatzplan vorgegeben: Versuch der Ansprache, Einsatz von Pfefferspray, um eine Reaktion hervorzurufen; wenn dies nicht funktioniere, sollten Taser genutzt werden. Zum Einsatz der Maschinenpistole soll der Einsatzleiter Herr H. in jener kurzen Besprechung zu dem dort eingeteilten sogenannten Sicherungsschützen Fabian S. gesagt haben: „Du bist unsere Last Chance, unser Last Man Standing”.

Nach dieser Besprechung gingen, so P., er selbst, die Beamten in Uniform sowie die beiden Zivilbeamten, in den Hinterhof. Eine kurze zweite Besprechung außerhalb des Sichtfeldes Mouhameds sei gefolgt. Zeuge P. berichtet, er sei im weiteren Verlauf in unmittelbarer Nähe der Polizist*innen im Hof geblieben. 

Nach erfolglosem – zumal für Mouhamed höchstwahrscheinlich unverständlichem – Anspracheversuch durch die Zivilbeamten hätten sich die Uniformierten teils im Hinterhof, teils außerhalb hinter dem Zaun auf der Missundestraße positioniert. Zeuge P. sagt, er habe im Folgenden den Befehl zum Einsatz des Pfeffersprays über Funk sowie dann das Zischen bei dessen Einsatz gehört.

Mouhamed sei dann – langsam und „eher desorientiert” wirkend – mit herunterhängenden Armen, hinter der Mauer hervorgegangen, während die uniformierten Beamten ihm erstmals, aber auf Deutsch, Befehle zugerufen hätten. 

Im Folgenden beobachtete der Zeuge laut seinem Bericht dann den Einsatz der Taser, sah, wie einer der Drähte Mouhamed traf – und schaute dann weg. Er habe dann Schüsse „sehr schnell hintereinander” gehört. Als er wieder hingeschaut habe, habe er gesehen, wie Mouhamed vornüber fiel und von Beamten zu Boden gebracht wurde. Mouhamed hat dann, so erzählt er, mit „schmerzverzerrtem Gesicht” am Boden „vor Schmerzen gejohlt” und sich unter der Fixierung seiner Arme auf dem Rücken mit Handschellen gewunden. Einsatzleiter H. sei dann zu Mouhamed hingegangen, habe knapp bemerkt: „Wird alles gut” und ihm dabei leicht in den Bauch getreten

Dann erst seien die Rettungskräfte – obwohl diese bereits zeitgleich mit dem ersten Polizeieinsatzfahrzeug angekommen und während des Polizeieinsatzes im Hof unmittelbar vor der Hofeinfahrt gestanden hätten – herangezogen worden. Auch der Zeuge P. sagt, wie der Gruppenleiter G. zuvor, aus, dass erst mit dem Betreten der Rettungskräfte der Befehl erteilt worden sei, Mouhameds Handschellen wieder zu lösen.

Richter Kelms Augenscheinnahme am Richtertisch hat unmittelbare Folgen

Auch der zweite Zeuge soll dann, unter den zunehmend ungeduldigen Fragen des vorsitzenden Richters Kelm, und umringt von den Verteidigern der fünf Angeklagten, vor dem Richtertisch die Standorte der Beamten auf Fotos aus der Akte anzeigen. Dabei und in der nachfolgenden Befragung durch die Vertreter*innen der Staatsanwaltschaft wird er still, braucht länger für seine Antworten. Auf Nachfrage des Staatsanwalts, der feststellt, dass der Zeuge doch zuvor so klar ausgesagt habe, erwidert er sichtlich angeschlagen: Nicht nur sei die Tat anderthalb Jahre her, auch handle es sich um „eines der schlimmsten Erlebnisse” seines Lebens. Anwalt Prof. Dr. Feltes beantragt daraufhin die Beendigung der Befragung und eine psychologische Unterstützung der Zeugen bei weiteren Vernehmungen. Richter Kelm unterbricht dann die Befragung und erklärt, diese bei einem nächsten Termin abzuschließen. Er beendet um kurz vor 15:00 Uhr den dritten Sitzungstag.

Relativ schnell müssen alle den Saal verlassen – Richter Kelm scheint diesem ersten inhaltlichen Prozesstag nicht mehr Zeit eingeräumt zu haben, denn um 15:00 Uhr steht im Sitzungssaal die Urteilsverkündung in einem anderen Strafverfahren an.

Fazit dritter Prozesstag und Ausblick

Die heutigen Befragungen haben einige schockierende und brutale Details im Umgang der Beamt*innen mit Mouhamed Dramé am 8. August 2022 öffentlich gemacht. Der verlesene Polizeinotruf offenbart nicht nur einen genauen Zeitablauf der Geschehnisse, sondern enthält auch eine Vielzahl von Aussagen, die polizeiliche Logiken in einer solchen Situation verdeutlichen.

Die Situationen, in denen die Zeugen auf Bildern Details des Ablaufs der Tat am Richtertisch, belagert von einer Vielzahl Prozessbeteiligter, anzeigen sollten, verdeutlichen, wie hilfreich die am Morgen beantragte Darstellung von Fotos und Abbildungen in einer angemesseneren Weise gewesen wäre. Nicht nur hätte sie den Zeugen die bedrängende Situation erspart, auch hätte dies wohl allen anderen Prozessbeteiligten ebenso wie den anwesenden Pressevertreter*innen und Zuschauer*innen ein besseres Verständnis des Tatgeschehens ermöglicht.

Einen Rückblick auf den dritten Prozesstag gibt es auch zum Anhören bei Radio Nordpol: https://radio.nrdpl.org/2024/01/19/dritter-prozesstag-im-fall-der-toetung-von-mouhamed-lamine-drame-in-dortmund/

Beim nächsten Termin am 31. Januar sollen in einem kurzen Termin von ca. einer Stunde einige Berichte verlesen werden. Beim übernächsten Termin am 21. Februar sollen die beiden Zeugenbefragungen zu Ende geführt werden.


Bericht vom 2. Prozesstag – 10.01.2024

Der zweite Prozesstag im Fall Mouhamed in Kürze:

Wir waren am 10. Januar 2024 wieder mit zahlreichen solidarischen Prozessbeobachtenden sowie einer Mahnwache am Dortmunder Landgericht vor Ort.

Auch am zweiten Prozesstag können die Angehörigen von Mouhamed Lamine Dramé aus dem Senegal, Nebenkläger im Prozess, nicht teilnehmen.

Der kurze Prozesstag beginnt wegen langwieriger Einlasskontrollen wieder mit Verzögerung.

Bei der Anpassung des Straftatbestands in Bezug auf Einsatzleiter Thorsten H. auf „Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat“ (§357 StGB) würde es sich laut Richter Thomas Kelm um eine “erhebliche Erweiterung des Strafvorwurfs” handeln.

Die fünf Angeklagten und ihre Anwälte machen (vorerst) geschlossen keine Aussage (Einlassung).

Ob ihre Aussagen kurz nach der Tat verwendet werden können, oder wegen des formalen Fehlers der Polizei Recklinghausen bei der Ermittlung das Beweisverwertungsverbot greift, bleibt weiter offen.

Der Tatbefundbericht wird verlesen.

Der zweite Prozesstag endet nach etwa 30 Minuten. Weiter geht es am Mittwoch, den 17. Januar, ab 9:30, mit der Beweisaufnahme.

Bericht vom zweiten Prozesstag:

Der zweite Prozesstag am 10. Januar 2024 beginnt wie der erste mit langem Warten vor der Einlasskontrolle am Hintereingang des Dortmunder Landgerichts an der Hamburger Straße. Wieder darf nur je eine Person das Gebäude betreten, Personen und Gepäck müssen durch die “Flughafenkontrolle”, nur Schreibsachen dürfen mit in den Saal genommen werden. Der Personalausweis jeder Person wird gescannt. Auf Nachfrage wird mitgeteilt, dass es sich um eine Vorkehrung für den Fall von Zwischenfällen im Gerichtssaal handle und die Scans nach Ende der jeweiligen Sitzung gelöscht würden. Auch heute sind unter den Besucher*innen wieder einige Polizist*innen in Zivil, aber in größerer Zahl sind solidarische Besuchende sowie Pressevertreter*innen gekommen. Ganz besonders freuen wir uns, dass Familienangehörige von Sammy Baker da sind, der 2020 im Alter von nur 23 Jahren von der Amsterdamer Polizei erschossen wurde (https://www.justiceforsammy.com/).

Derweil findet unter starker Polizeipräsenz vor dem Haupteingang des Gerichts trotz Kälte eine gut besuchte Mahnwache mit heißen Getränken und Infomaterial statt.

Mit einer Dreiviertelstunde Verspätung beginnt der 2. Prozesstag um 10:15 Uhr.

Der vorsitzende Richter Kelm macht von Anfang an einen sichtlich genervten Eindruck.

Es finden keine Begrüßung oder Prüfung der Anwesenheit der Verfahrensbeteiligung statt und es gibt keinen Überblick über den prozessualen Verlauf des Tages.

Richter Kelm weist zu Beginn darauf hin, dass bei dem angeklagten Einsatzleiter Thorsten H. nicht “nur” eine Verurteilung wegen “Anstiftung zu gefährlicher Körperverletzung”, sondern auch wegen “Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat” (§357 StGB) in Frage kommen könnte. Er bemerkt, dass es sich bei der Anpassung des Strafvorwurfs um eine “erhebliche Erweiterung” handeln würde. Ob die Handlungen von H. am 8.8.2022 unter diesen Paragraphen fallen, müsse geprüft werden.

Anschließend bemerkt Kelm, dass der angeklagte Fabian S., der mit einer Maschinenpistole sechs Mal auf Mouhamed schoss, eventuell aus einer Notwehrlage heraus gehandelt haben könnte. Dieser Hinweis Kelms an die Rechtsanwälte der fünf Angeklagten, insbesondere von Fabian S., dass eine solche Argumentation vor Gericht möglicherweise auf offene Ohren treffen könnte, steht in starkem Widerspruch zu dem, was die Faktenlage und auch die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft ergibt. Dort wird deutlich, dass in der Situation auf dem Hinterhof der Einrichtung von Mouhamed Dramé keine Gefahr für Andere ausging, und dass das Eintreffen der Polizei und ihre aggressiven Handlungen Mouhamed zum Aufstehen und Hinbewegen in die einzige ihm offene Richtung zwangen. Vielmehr wäre überlegenswert, ob nicht Mouhamed sich durch die Ansprache von Zivilbeamten in einer ihm unbekannten Sprache, das Umstellen sowie die Angriffe mit Pfefferspray und Distanzelektroimpulsgerät (DEIG/”Taser”) in einer Notwehrlage befand.

Die Rechtsanwälte der fünf Angeklagten geben nacheinander an, dass alle fünf Angeklagten auf ihr Anraten hin und auch sie selbst in deren Namen vorerst schweigen, also keine Aussage (“Einlassung”) tätigen werden.

Anschließend erkundigt sich RA Lisa Grüter, Vertreterin der Familie Dramé in der Nebenklage, ob es sich bei der Bemerkung zum Beweisverwertungsverbot bezüglich der Aussagen der Angeklagten in den Tagen nach dem Mord, die Richter Kelm am ersten Prozesstag getätigt hat, um eine Anordnung gehandelt habe. Also ob er bereits entschieden habe, dass diese aus formalen Gründen als nicht vor Gericht verwendbar gelten. Unfreundlich gibt Kelm zurück, dass es sich hier lediglich um einen Hinweis gehandelt habe. Ob ihre Aussagen, die für eine Aufklärung der Mordumstände elementar sein könnten, nun verwendet werden können, oder ob der formale Fehler der Polizei Recklinghausen bei der Ermittlung dies verhindern wird, bleibt also weiter offen.

Richter Kelm verliest dann den Tatbefundbericht aus der Akte, in dem der Hinterhof der Jugendeinrichtung zur Missundestraße hin detailliert beschrieben wird. Der Bericht enthält auch Fotos, die Ortsunkundigen die Situation besser begreiflich machen könnten. Obwohl im Gerichtssaal ein großer Bildschirm angebracht ist, werden die Fotos dort nicht gezeigt. Nur auf Nachfrage von Prof. Dr. Thomas Feltes aus der Nebenklage dürfen lediglich die vier Schöff*innen diese über die Schulter des Richters auf dem Ausdruck aus der Akte einsehen.

Der zweite Prozesstag endet nach etwa 30 Minuten.

Auch andere Prozessbeobachtende haben Berichte über den Tag veröffentlicht, zum Beispiel das Radio Nordpol (https://radio.nrdpl.org/2024/01/11/2-prozesstag-im-fall-der-toetung-von-mouhamed-lamine-drame-in-dortmund/) und die Dortmunder Mean Streets Antifa (https://msadortmund.noblogs.org/mouhamed-lamine-drame-desastroese-prozessbedingungen-am-2-prozesstag-im-landgericht-dortmund/).

Für den kommenden Prozesstag am Mittwoch, den 17. Januar, ab 9:30, kündigt Richter Kelm den Beginn der Beweisaufnahme mit mehreren geladenen Zeug*innen, darunter womöglich ein Angestellter der Jugendhilfeeinrichtung, an.

Alle, die den Prozesstag solidarisch begleiten wollen, sind herzlich zur Mahnwache vor dem Landgericht oder zur Prozessteilnahme eingeladen. Für letztere empfiehlt sich aus der Erfahrung der ersten zwei Termine, mindestens 30 bis 60 Minuten vor Prozessbeginn an der Hamburger Straße 11 anzustehen, um einen Platz zu bekommen.


Radio Nordpol – Beitrag zum 2. Prozesstag

Für die Dokumentation des 2ten Prozesstages hat Radio Nordpol mit Menschen und Gruppen gesprochen, die am Verhandlungstag teilgenommen haben. In dem Interview wurde mit dem Solidaritätskreis Mouhamed, Justice for Sammy (https://www.justiceforsammy.com/), Lisa Grüter, der Anwältin der Nebenklage, BackUP sowie der Initiative 2. Mai Mannheim (https://www.initiative-2mai.de/) gesprochen.

Bericht vom 1. Prozesstag – 19.12.2023

Am 19.12.2023 begann vor dem Dortmunder Landgericht der Prozess gegen fünf Polizist*innen, die an der Tötung Mouhamed Lamine Dramés am 8. August 2022 in der Dortmunder Nordstadt beteiligt waren. Zum Auftakt unserer solidarischen Prozessbegleitung waren wir mit einer Mahnwache und einer großen Zahl an Unterstützer*innen im und um das Landgericht präsent.
Hier der erste ausführliche Bericht von der für den Prozess vom Solidaritätskreis Justice4Mouhamed gegründeten Dokumentationsredaktion.

AUFTAKT SOLIDARISCHE PROZESSBEGLEITUNG

Vor dem Haupteingang des Landgerichts hielten wir mit einer großen Zahl an Menschen eine Mahnwache ab, die eine Anlaufstelle bot, an diesem Tag gemeinsam vor Ort zu sein. Derweil wartete auf der Gebäuderückseite an der Hamburger Straße vor dem separat dafür zur Verfügung gestellten Gerichtseingang ab dem frühen Vormittag eine Vielzahl an Interessierten auf Einlass zum Gericht. Ab 13 Uhr begann dort eine langwierige Einlasskontrolle, bei der Besucher*innen Personalausweise vorlegen und alle Gegenstände außer Schreibmaterialien ablegen mussten. Um 14 Uhr, dem eigentlichen angesetzten Prozessstart, war höchstens die Hälfte aller Anstehenden kontrolliert. Letztendlich schafften es mehr als 50 Besucher*innen und etwa ebenso viele Pressevertreter*innen in den überfüllten Saal 130. Leider war es aus Platzgründen nicht allen Interessierten möglich, in den Sitzungssaal hineinzukommen. Ebenso nicht anwesend waren die Angehörigen von Mouhamed Lamine Dramé, die als Nebenkläger formal und offiziell Prozessbeteiligte sind und mehrfach den Wunsch zum Ausdruck gebracht haben, persönlich am Prozess teilzunehmen. Dass sie die kommenden Prozesstermine miterleben, ist eine der neun zentralen Forderungen des Solidaritätskreises zum Prozessstart: (https://justice4mouhamed.org/politische-einordnung-zum-prozessauftakt/)
Um ihre Einreise aus dem Senegal und ihren Aufenthalt in Dortmund zu ermöglichen, sammeln wir aktuell Spenden und rufen alle dazu auf, die Kampagne zu unterstützen: https://www.betterplace.org/de/projects/131472-prozessteilnahme-der-familie-drame-sowie-solidarische-prozessbegleitung

ERÖFFNUNG UND VERLESUNG DER ANKLAGESCHRIFT

15 Uhr: Mit einer Stunde Verzögerung beginnt der Prozess. Die fünf angeklagten Polizist*innen betreten den Saal. Der vorsitzende Richter Kelm eröffnet den Prozess, verliest die Daten der Angeklagten und belehrt sie in ihren prozessualen Rollen. Für kurzes Raunen im Saal sorgt seine Feststellung, dass die Nebenkläger ja nicht anwesend seien, nur ihre Rechtsvertretungen Lisa Grüter sowie der für den Prozess ebenfalls durch die Familie Dramé nun neu mandatierte Prof. Dr. Thomas Feltes.

Dann beginnt Oberstaatsanwalt Carsten Dombert, die Anklageschrift zu verlesen. Angeklagt sind die Polizeibeamten*innen Jeannine Denise B., Markus B. sowie Pia Katharina B. wegen gefährlicher Körperverletzung im Dienst. Ihr Einsatzleiter, Thorsten H., wird angeklagt, diese zu „vorsätzlich begangenen rechtswidrigen Taten angestiftet zu haben“. Der dreißigjährige Fabian S., der mit einer Maschinenpistole sechs Mal auf Mouhamed schoss, ist wegen Totschlags angezeigt.
In der Anklageschrift wird die Situation vom 08.08.2022 dann ausführlich beschrieben. Erstmals wird hier aus staatlich-juristischer Sicht formuliert, was wir bereits seit August 2022 wissen: Von Mouhamed ging für die Beamt*innen oder Andere keinerlei Bedrohung aus. Mouhamed sei „ruhig und mit dem Körper nach vorne gebeugt“ vorgefunden worden, so die Anklageschrift, die Polizei habe eine „statische Lage“ vorgefunden. Die Anklageschrift benennt dann eindeutig fehlerhafte und eskalative Polizeihandlungen – die Ansprachen der Polizeibeamten in Zivil fanden statt, ohne dass diese sich als Polizist*innen auswiesen; sowohl der erste Angriff mit Pfefferspray als auch die folgenden mit Taser und die tödlichen Schüsse aus der Maschinenpistole MP5 geschahen „ohne vorherige Androhung“, die das Polizeigesetz vorsieht. Mouhamed sei zudem „zuvor von keinem der an dem Einsatz beteiligten Polizeibeamten aufgefordert worden, das Messer wegzulegen“.

ZWEI BEMERKUNGEN, DIE FRAGEN AUFWERFEN

Nach Verlesung der Anklageschrift folgen erste prozessuale Erklärungen.
Richter Kelm kündigt an, dass die Kammer ein Beweisverwertungsverbot anzuwenden beabsichtige. Dies bezieht sich nach unserem derzeitigen Stand auf alle bisher getätigten Aussagen der fünf Angeklagten im Ermittlungsverfahren. Hintergrund ist, dass die nun angeklagten Beamt*innen von der ermittelnden Kriminalpolizei Recklinghausen recht lange als Zeug*innen, nicht als Beschuldigte, geführt und z. T. auch befragt wurden. Bis auf den Schützen Fabian S. haben alle Angeklagten Aussagen gemacht, die dann Teil des Ermittlungsverfahrens und der Verfahrensakte wurden. Dieser formale Fehler der Kripo Recklinghausen könnte nun unabsehbare Folgen für das Gerichtsverfahren haben: Sollte sich der Richter mit dieser juristischen Einschätzung durchsetzen, so werden alle Aussagen der Polizist*innen aus den Tagen nach der Tat behandelt, als hätte es sie niemals gegeben. Sie könnten ihre Version der Tat sowie ihre Verteidigungsstrategien dann ganz neu formulieren. Ersten Einschätzungen nach wird über diese Rechtsauffassung auch juristisch erneut zu sprechen sein. Die Kripo Recklinghausen wird sich in jedem Fall unangenehmen Fragen darüber stellen lassen müssen, weshalb sie die Ermittlungen fehlerhaft eröffnete und somit – ob bewusst oder unbewusst – ihren Dortmunder Kolleg*innen möglicherweise zu einem Vorteil vor Gericht verhalf.

Anschließend rät Oberstaatsanwalt Dombert an, zu prüfen, ob die Anklage gegen den Einsatzleiter Thorsten S. von der Anstiftung zu einer Straftat (§26 StGB) auf den Straftatbestand der „Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat“ (§357 StGB) abzuändern sei. Über die Implikationen dessen sowie mögliche Reaktionen seitens der Verteidigung wird mutmaßlich ebenfalls am nächsten Verhandlungstag beraten werden.

ÜBERRASCHUNG KURZ VOR ENDE DES PROZESSAUFTAKTS

Als der Prozessauftakt nach knapp 15 Minuten dem Ende zugeht und Richter Kelm den Saal bereits entlassen will, meldet sich Rechtsanwalt Krekeler, der den Schützen Fabian S. vertritt, zu Wort und bittet, eine Erklärung seines Mandanten verlesen zu dürfen. Der erste Satz lautet: „Mein Mandant und seine Familie sind durch dieses Strafverfahren sehr belastet“. Die Situation, in der Mouhamed sich nach dem Einsatz des Pfeffersprays erhob und bewegte, habe „nicht nur sein Mandant“ als „bedrohlich“ wahrgenommen. Dies belege der fast zeitgleiche Einsatz von Tasern und Maschinenpistole durch mehrere der Beamt*innen. Krekeler verliest weiter: „In diesem Moment kam es meinem Mandanten auf die Hautfarbe [von Mouhamed Dramé] überhaupt nicht an.“ Unter lautstarken Reaktionen aus den Besucher*innenreihen endet der kurze erste Prozesstag.

AUSBLICK

Weiter geht es am Mittwoch, den 10. Januar, um 9:30 Uhr am Dortmunder Landgericht, Sitzungsaal 130 (Einlass zum Gerichtssaal: Hamburger Straße 11).
Eigentlich war der zweite Prozesstag für Einlassungen der Angeklagten oder ihrer Verteidigung vorgesehen. Nun ist wohl aber damit zu rechnen, dass zuerst formal über die Anträge bzw. Verfahrensvorschläge seitens des Richter Kelm sowie Oberstaatsanwalts Dombert beraten werden wird.

Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed wird am 10. Januar ab 9 Uhr erneut eine Mahnwache vor dem Landgericht veranstalten und ruft auch weiter zu solidarischem Prozessbesuch auf.
Kommt hin!

Alle uns bisher bekannten Folgetermine sind zu finden unter: https://justice4mouhamed.org/prozessbegleitung/.

Einen auditiven Eindruck aus der Sicht verschiedener Anwesender beim Prozessauftakt gibt es dank der tollen Arbeit des Radio Nordpol hier zu finden: https://radio.nrdpl.org/2023/12/19/prozessauftakt-im-fall-der-toetung-von-mouhamed-lamine-drame-in-dortmund/

Und: Bitte unterstützt weiterhin tatkräftig die Spendenkampagne zur Umsetzung des Wunsches der Familie Dramé nach einer Prozessteilnahme und zur Finanzierung unserer Prozessbegleitung. Mithilfe der fantastischen Unterstützung von Vielen können wir es schaffen. DANKE! https://www.betterplace.org/de/projects/131472-prozessteilnahme-der-familie-drame-sowie-solidarische-prozessbegleitung


Radio Nordpol – Beitrag zum Prozessautakt

Für diesen Beitrag hat das Radio Nordpol Interviews mit dem Solidaritätskreis Justice4Mouhamed, dem Grundrechtekommitee Köln (https://www.grundrechtekomitee.de/) sowie NSU Watch (https://www.nsu-watch.info/) geführt. Es geht um den ersten Prozesstag und dessen Ergebnisse sowie darüber, wie es weitergehen wird.

Spendenkampagne für Prozessteilnahme der Familie Dramé gestartet

Wir sind auf eure Hilfe angewiesen! 
Während wir uns auf allen Ebenen darum kümmern, der Familie eine Einreise und Prozessteilnahme zu ermöglichen und gleichzeitig unsere Prozessbegleitung vorbereiten, brauchen wir dafür vorallem auch Geld.
Allein die Ungewissheit des Verfahrensverlaufs und der Dauer erschweren Vieles – im besten Falle schaffen wir uns Rücklagen!

https://www.betterplace.org/de/projects/131472-prozessteilnahme-der-familie-drame-sowie-solidarische-prozessbegleitung

Bitte helft uns diese Kampagne groß zu machen! Werdet gerne kreativ!

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#justice4mouhamed

Offener Brief an die Stadt Dortmund

Sehr geehrter Herr Westphal, sehr geehrte Stadtgesellschaft,

fast 500 Tage nachdem Mouhamed Lamine Dramé durch die Polizist*innen der Dortmunder Nordwache erschossen wurde, kommt es nun zum Prozess. Fünf der am Einsatz beteiligten Beamt*innen müssen sich vor Gericht verantworten. Das öffentliche Interesse an dem Fall ist enorm und auch der Druck auf die Nordwache ist hoch. Denn von ebendieser Wache ging der Einsatz aus, der den kurz zuvor aus dem Senegal geflohenen Mouhamed das Leben kostete.

Der Start des Verfahrens stößt auf großes mediales Interesse und auch wir als zivilgesellschaftliche Initiative werden den Prozess begleiten. Neben unserer Arbeit auf der lokalen Ebene ist uns besonders wichtig, der Familie Dramé ein Sprachrohr zu sein. So begrüßen wir selbstverständlich, dass die Familie Dramé bereits im November die Gelegenheit erhalten hat, mit der finanziellen Unterstützung des Integrationsrat der Stadt Dortmund, am Tatort zu trauern. Wir begrüßen eine Verwendung von Steuermitteln, um diesen Aufenthalt zu finanzieren.

Allerdings kamen bei der sehr spontanen Ankunft auch Fragen auf:

Warum bekommen wir als zivilgesellschaftliche Initiative erst kurz vor Ankunft von Vater und Bruder davon mit?

Die bestehenden Kontakte zwischen dem Solidaritätskreis Mouhamed und einzelnen Akteur*innen der Stadt Dortmund wurden nicht genutzt, um diese wichtige Information über die Ankunft von Vater und Bruder weiterzuleiten. Sidy Dramé, der Bruder von Mouhamed, war äußerst überrascht, dass es keinen Informationsfluss gab und wurde dazu angehalten nichts zu erzählen. In einem Fall, der so hohes öffentliches Interesse hervorbringt sollten auch zivilgesellschaftliche Initiativen in die Arbeit eingebunden werden. Glücklicherweise hatten wir die Gelegenheit Familie Dramé während des gesamten Aufenthaltes dennoch zu unterstützen.

Warum erfolgt der etwa einwöchige Aufenthalt so kurz vor dem Prozess, so ist es doch ein verständlicher Wunsch von Familie Dramé am Prozess teilzunehmen?

Von Beginn an ist klar, dass die Familie Dramé dem Gerichtsverfahren beiwohnen möchte. Während unserer Mahnwachen, der Großdemonstrationen, bei denen jeweils über 1000 Menschen auf den Straßen von Dortmund demonstrierten und Gerechtigkeit für Mouhamed forderten, wurde dieses Begehren vielmals zum Ausdruck gebracht. Auch in den Ruhr Nachrichten wird diesem essentiellen Wunsch Ausdruck verliehen.

Warum wird die Anwältin, welche die Familie in der Nebenklage vertritt, nicht über die Anreise der Familie informiert?

Die Tatsache, dass, die Anwältin von Familie Dramé nicht mit ausreichendem Vorlauf über deren Aufenthalt informiert wird, halten wir für sehr problematisch, da eine Abstimmung mit der juristischen Vertretung selbstredend vor Ort enorme Vorteile hat. Dass Lisa Grüter als Rechtsbeistand der Familie einberufen wurde, ist der Lokalpresse zu entnehmen.

Wir bitten freundlichst um Stellungnahme zu den oben genannten Fragen.

Zudem fordern wir Sie auf die Kosten für eine Anreise zum Prozess der Familie Dramé zu übernehmen sowie Visaangelegenheiten schnellstmöglich zu klären.

Familie Dramé hat in Dortmund einen Sohn verloren. Eine Teilnahme am Gerichtsverfahren ist die Stadt Dortmund dieser Familie schuldig.

Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed

Politische Einordnung


Unsere Forderungen

1. Eine lückenlose Aufklärung und Verantwortungsübernahme

In zahlreichen Fällen von (tödlicher) Polizeigewalt gibt es keine Verfahren oder die Ermittlungen wurden zügig eingestellt. Hier ist es an den Angehörigen und Hinterbliebenen selbst, Gutachten in Auftrag zu geben und für ein Verfahren zu kämpfen.
Eine lückenlose Aufklärung kann nur dann bestehen, wenn seitens der Polizist*innen keine Vertuschungen oder Falschaussagen bestehen und die vorhandenen Gutachten gewissenhaft eingeholt wurden.

In diesem Kontext fordert der Solidaritätskreis und im Namen der Familie Mouhameds Bruder Sidy Dramé: „Gerechtigkeit in Mouhameds Namen und für die Familie Dramé. Alle Verantwortlichen, die an Mouhameds Tötung beteiligt waren, müssen erklären, was passiert ist und vor allem Rechenschaft für ihre Taten ablegen. Wir erwarten eine moralische Reparation, in der klar gemacht wird, dass Mouhamed das Opfer war“.

2. Teilnahme der Familie Dramé am Prozess

Bereits zu der Demonstration im August, als sich Mouhameds Tod das erste Mal jährte, forderte der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed Visa für Mouhameds Familie bezüglich der Gerichtstermine. Doch nicht nur für die Familie Dramé soll dies gelten, sondern für alle Angehörigen der Opfer tödlicher Polizeigewalt.

Die Stadt plante ohne einen Einbezug des Solidaritätskreises, der seit der Erschießung Mouhameds mit der Familie in Kontakt steht, einen Aufenthalt der Angehörigen in Dortmund. SPD und Grüne versuchen sich damit in ihrer Öffentlichkeitsarbeit zu profilieren.
Wir fordern die Parteien auf, keinen politischen Profit aus Mouhameds Tod zu schlagen und diesen nicht für ihre politische Agenda zu nutzen.

Wir sehen es als Aufgabe der Stadt, Verantwortung zu übernehmen, indem Visumsangelegenheiten und die Kosten der Anreise getragen werden und sich um die notwendigen Mittel bemüht wird. Hier begrüßen wir eine Finanzierung aus Steuermitteln.
Darüber hinaus erachtet der Solidaritätskreis die Einführung humanitärer Visa als dringend notwendig!


3. Etablierung einer unabhängigen Beschwerde- und Kontrollinstanz gegenüber der Polizei

Nach dem von der Polizei verursachtem Tod an Mouhamed wurde verkündet, die Polizei Recklinghausen übernehme aus Neutralitätsgründen die Ermittlungen.
Solch eine Ermittlung hält der Solidaritätskreis nicht für unabhängig oder neutral, da hierbei der Korpsgeist, welcher der Polizei inhärent ist, vernachlässigt wird.
Bei Polizeigewalt kommt es immer wieder zu Vertuschungen und Lügen. Dies lässt sich zum Beispiel bei Oury Jalloh, Ahmed Ahmad und auch Bilel erkennen, wo sich die geschilderten Versionen im Zeitverlauf einer starken Veränderung unterziehen. Häufig werden präventiv Anzeigen zur Einschüchterung der Betroffenen oder ihrem Umfeld gestellt. In ihren Untersuchungen zu Gewalt im Amt stellen Singelnstein, Espín Grau und Abdul-Rahman heraus, dass nur 2% aller Anzeigen gegen Beamt*innen zu einer Anklage kommen.

Ebenso wenig wie gegen Kolleg*innen Anzeige erstattet wird, wird rechten Tendenzen innerhalb der Polizei Beachtung geschenkt. Trotz eines zu leistenden Eides im Rahmen demokratischer Grundprinzipien, konnten in den letzten Jahren vermehrt rechte Chatgruppen aufgedeckt werden. Hinzu kommen Nicht-Ermittlung bei rassistischen Taten des Staatsschutzes, wie zum Beispiel in Berlin, wo über Jahre 300 Fälle aus dem Bereich rechtsextreme Kriminalität unbearbeitet blieben. Auch hier ermittelt die Polizei nun wegen Strafvereitelung im Amt gegen sich selbst.

Wir fordern daher eine Beschwerde- und Kontrollinstanz gegenüber der Polizei, die Vorwürfe gegen Polizeibeamt*innen unabhängig und sensibel im Hinblick auf Diskriminierung und Unterdrückungsmechanismen, bearbeitet. Auch eine Kennzeichnungspflicht ist dafür notwendig, die durch Innenminister Reul, unmittelbar nach Amtsantritt, abgeschafft wurde.


4. Ausbau von niedrigschwelligen Angeboten und Anlaufstellen für Menschen in Not- und Krisensituationen

Die Familie erwartet Gerechtigkeit in der Weise, dass Mouhameds Fall sich niemals wiederholen darf. Das bedeutet, dass polizeiliche Einsatzkonzepte dahingehend überdacht werden müssen, dass Situationen in denen ein Messer involviert ist, nicht automatisch das Abdrücken einer Pistole oder eines Maschinengewehres bedeuten.

Mit der Bearbeitung von polizeilichen Einsatzkonzepten ist es jedoch nicht getan. Die Polizei ist nicht geeignet, um Menschen in Krisen und Notsituationen zu unterstützen, da sie in erster Linie auf Ordnung, nicht auf soziale Sicherheit trainiert wird. Trainingstage für Polizist:innen stellen keinen effektiven Lösungsansatz zum Umgang mit strukturellen Rassismus innerhalb der Polizei dar.Durch Strafen und Sanktionierungen werden die Probleme der Menschen nicht verschwinden, weshalb ein ganzheitlicher Ansatz wichtig ist, der Betroffenen empathisch und auf Augenhöhe begegnet.

Der Solidaritätskreis fordert eine regionale Anbindung an Krisendienste, die ohne Polizei operieren sowie den Ausbau von Dolmetscher*innen-Diensten – nicht nur im Kontext der Polizei, sondern auch in sozialen und medizinischen Einrichtungen wie z.B. der LWL-Klinik.

Um diese Problematiken anzugehen, ist es erforderlich auf höherer politischer Ebene Sozialkürzungen aufzuheben und Probleme im Sozial- und Gesundheitssystem anzugehen. Eine Demilitarisierung sowie ein Stopp der polizeilichen Aufrüstung, würde Mittel frei werden lassen, die in diesem Bereich dringend erforderlich sind.

5. Demilitarisierung der Polizei

Wir beobachten sowohl eine stetige militarisierte Hochrüstung der Polizei, als auch die Ausweitung gesetzlicher Befugnisse. Im Großteil der Bundesländer sind neue Polizeigesetze (PolG) bereits verabschiedet, oder geplant, mit denen Freiheitsrechte abgebaut werden. Diese Aufrüstung der Ordnungsbehörden führt zu geringeren Hemmschwellen bei Gewaltanwendung, die nicht selten problematisch sind. Polizeifahrzeuge sind häufig mit Maschinenpistolen ausgestattet. Neben der Dienstwaffe führen Beamt*innen mehrerer Bundesländer Taser bei sich.
Taser, die auch in Dortmund seit 2021 eingesetzt werden, sind tödliche Waffen. Dies zeigt die Dokumentation der Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/CILIP. Während der letzen zwei Jahre gab es insgesamt vier Taser Einsätze mit Todesfolge, einer davon in Dortmund. Grund dafür sich Gesundheitsrisiken für herzkranke oder drogennutzende Personen. Diesen Personengruppen können ihre Erkrankungen nicht angesehen werden. Zudem sind sie ungeeignet für einen deeskalierenden Umgang, z. B. bei psychisch erkrankten Personen – Gründe genug den Einsatz von Tasern abzuschaffen!

Mouhameds Fall ist ein erschütterndes Beispiel dafür, dass eine militarisierte Polizei Einsatzkonzepte forciert, die auf Gewalt fußen aber keine Lösungsansätze darstellen. Mouhamed, ein Jugendlicher mit (vermutlich) suizidalen Absichten, der sich in der Ecke eines Innenhofs kauernd, ein Messer an den Bauch hielt, wurde mit einer ganzen Flasche Pfefferspay, zwei Anwendungen mit dem Taser und nur 0,7 Sekunden danach mit 6 Schüssen, wovon ihn 5 trafen, begegnet. Dies ist ein Beispiel für eine Eskalation in psychischen Notsituationen, die schlechter nicht hätte enden können. Ein sozialer Krisendienst, der für solche Situationen geschult ist, könnte in dieser und ähnlichen Situationen abhilfe schaffen.

Die Vorfälle von Polzeigewalt, rechten Netzwerken sowie institutionalisierter Rassismus in den Ordnungsinstitutionen, müssen auf intersektionaler Weise reflektiert und kritisiert werden.
Die Polzei braucht keine Ausbreitung der Befugnisse sondern eine Eingrenzung dieser!
Psychische Krisen sind keine Lizenz zum Töten: Kein Tränengas, kein Taser und keine Schusswaffen gegen Menschen in psychischen Notsituationen – sie brauchen professionelle Hilfe, community-basierte Unterstützung und keine gewaltsame Folter und Tötung!

6. Eine offizielle Dokumentation zu Toten durch die Polizei und Gewahrsam

Noch immer gibt es keine offizielle Dokumentation über Personen, die durch die Polizei zu Tode kommen oder in Gewahrsam sterben, während der Tod von Polizist*innen konsequent dokumentiert wird.
Nur Dank Initiativen wie Death In Custody, die Todesfälle von schwarzen Menschen, People of Color und rassifizierten Menschen in Gewahrsam dokumentieren, oder durch Bürgerrechte und Polizei/CILIP, welche tödliche Schüsse und Tasereinsätze listen, gibt es Zahlen und Hintergründe. Im letzten Jahr legte zudem die Initiative topa, mit Unterstützung von Frag den Staat 36 Fälle, im Jahr 2022, von tödlicher Polizeigewalt vor.

Eine konsequente Aufarbeitung der Todesfälle bei Polizeieinsätzen oder in Polizeigewahrsam macht eine solide Datenlage und somit eine transparente Dokumentation unerlässlich!

7. Rücktritt Reul

Der bereits geschilderte Korpsgeist reicht bis in das Innenministerium. Herbert Reul hat sich nach dem tödlichen Einsatz, vorerst und ohne zu hinterfagen, hinter die Version der Polizist*innen gestellt und unkritisch die Schilderungen aus ihrem Bericht übernommen. Auch im Bereich der sogenannten Clankriminalität agiert Reul untragbar und stellt ganze Bevölkerungsgruppen unter Generelverdacht, während rechten Tendenzen in der Polizei nur verbal begegnet wird. Wir fordern ein Ende der „Keine-Toleranz“-Politik und ein Angehen von sozialen Missständen, was nicht in Kriminalisierung und Bestrafung münden darf.

Reul beantwortete tödlich endende Polizeieinsätze in Dortmund, Hagen oder solche mit lebenseinschränkenden Folgen, wie in Herford, sowie zahlreichen fatalen Fehler der Polizei mit mehr Befugnissen für die Institution Polizei. Grund genug seinen Rücktritt zu fordern!

8. Endgültige Schließung der Wache Nord und keinen Neubau

Die Nordstadt braucht weder mehr Polizei auf der Straße, noch eine neue moderne Polizeiwache, in der sogenannte moderne Polizeiarbeit möglich ist. Strategische Fahndungen, sinnlose Schwerpunkteinsätzen die, die Nordstadt kriminalisieren, lehnen wir ab. Soziale Probleme sind nicht mit Repression und Gewalt lösbar. Es gibt zahlreiche Vorwürfe gegen Beamt*innen der Wache Nord aufgrund ihres brutalen Vorgehens.

Wir fordern eine Auflösung dieser und die lückenlose Aufklärung der Vorfälle in ihrem Kontext!

9. Diskussionen zu Alternativen zur Polizei

Es müssen alternative Praktiken diskutiert und erprobt werden, die das staatliche Gewaltmonopol mit Institutionen wie Gefängnis und Polizei in Frage stellen. Das polizeiliche Verständnis von Sicherheit und Ordnung muss hinterfragt werden und der Fokus auf soziale Absicherung bezüglich Wohn- und Lebensraum, Schutz vor diskriminierender Gewalt und gesundheitlichen Perspektiven, verschoben werden.

Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed fordert dazu auf, gegenseitige Hilfe und Unterstützung im Viertel zu fördern, sichere Lebensgrundlagen zu schaffen, die nicht mit einer strafenden Politik und Polizei zu erreichen sind. Es benötigt eine dringende Umverteilung finanzieller Mittel in community-basierte Projekte und Anlaufstellen!

Justice4Mouhamed!


Countdown zum Prozess

Bis zum Prozessbeginn am 19.12.2023, also dem Tag an dem das Verfahren gegen die Beamt*innen startet, die für Mouhameds Tod verantwortlich sind, möchten wir an Mouhameds Geschichte erinnern. Wir möchten euch unsere Rolle bei der Prozessbegleitung näher bringen und natürlich auch verraten, wie ihr supporten könnt.

Wer war Mouhamed?

Mouhamed ist aus dem Senegal nach Dortmund geflohen. Seine Familie beschreibt ihn als lebensfrohen Jungen, der gerne Fußball spielt. Auf vielen Bildern ist zu erkennen, dass er gerne Shirts mit positiven Botschaften trägt.

Mouhamed war seiner Familien und Freunden sehr verbunden. Er war immer für seine Mutter da (hat fast jeden Morgen für sie Wasser geholt). Ebenfalls war er für seine Freunde und Mannschaft ein sehr guter Teamplayer.

Was passiert mit Mouhamed, nachdem er in Dortmund ankommt?

Mouhameds Traum nach Dortmund zu kommen, wo sein Lieblingsverein BVB spielt, wird wahr. Doch kurz nach der Ankunft merkt er selbst, dass etwas nicht in Ordnung ist und sucht sich Hilfe – zuerst sogar bei der Polizei. Nach einem kurzen Aufenthalt in der LWL Klinik wird er wieder entlassen. Mouhamed ist in einer Jugendeinrichtung in der Nordstadt untergebracht.

Wie kommt es zu dem brutalen Tod an Mouhamed?

Am 8. August 2022 erschießen Polizeibeamt*innen der Nordwache Mouhamed brutal. Nachdem sie eigentlich gerufen wurden, um Mouhamed zu helfen, der im Innenhof der Einrichtung in einer Ecke kauerte und sich ein Messer an den Bauch hielt. Doch warum geht die Polizei mit solcher Härte vor und feuert ohne Warnung mit Taser und nur 0.7 Sekunden später mit der Maschinenpistole auf den Jungen?

Was erwarten wir vom Gerichtsverfahren?

Wir begrüßen, dass es zum Prozess gegen die Beamt*innen kommt, die für den Tod von Mouhamed verantwortlich sind. Diese Verhandlung ist wichtig, weil es nur in sehr seltenen Fällen von Polizeigewalt zu einem Prozess kommt. Doch das Verständnis von Gerechtigkeit von Mouhameds Familie und dem Solikreis geht über diesen Prozess hinaus. Eine Anerkennung, dass Mouhamed kein Angreifer ist, sondern das Opfer, ist Familie Dramé sehr wichtig. Denn die Polizei versuchte Mouhamed bereits wenige Minuten nach der Tat als Angreifer darzustellen. Hierbei spielen rassistische Stereotype eine Rolle.

Wie begleiten wir den Prozess?

Unsere Arbeit passiert in enger Absprache mit Familie Dramé, die wir in der Nebenklage unterstützen. Eine große Forderung besteht für uns darin, dass die Familie am Prozess teilnehmen kann. Der Bruder Sidy erklärt dazu folgendes:

„Nichts auf der Welt wird Mouhamed zurückbringen. Wir wollen Gerechtigkeit in Mouhameds Namen und für die Familie Dramé. Alle Verantwortlichen, die an Mouhameds Tötung beteiligt waren, müssen erklären, was passiert ist und vor allem Rechenschaft für ihre Taten abgeben. Wir erwarten eine moralische Reparation, in der klar gemacht wird, dass Mouhamed das Opfer war.“

Am 19.12.2023 wird die Anklageschrift verlesen und wir werden eine Kundgebung vor dem Landgericht abhalten. Auch möchten wir über die Geschehnisse im Saal berichten. Wir glauben, dass anhand der Geschichte von Mouhamed viele strukturelle Probleme, die bei der Polizei vorhanden sind, sichtbar gemacht werden können.
Die rassistische Einsatzlogik und die zunehmende Militarisierung der Polizei führten zu Mouhameds Tod und bieten keine Sicherheit. Die Forderung nach einer robusten und gewaltfähigen Polizei betrachten wir als gefährlich, denn hier stehen Menschenleben auf dem Spiel.

Der Tod von Mouhamed ist kein Einzelfall!

Wie kannst du unterstützen?

Wir sind sehr dankbar über jede Form der Unterstützung und haben eine Spendenkampagne gestartet, damit der Aufenthalt von Familie Dramé finanziert werden kann. Wenn du ein bisschen Geld übrig hast, dann spende gerne.
Es geht auch direkt auf das folgende Konto:

Lückenlos e.V.

IBAN: DE19430609674108589900

BIC: GENODEM1GLS

GLS Bank Bochum

Verwendungszweck: „Solikreis Mouhamed“

Mahnwache zum Prozessbeginn

Außerdem freuen wir uns über eine große Mahnwache am 19.12.2023 ab 12 Uhr.

Komm also zur Kundgebung vor dem Landgericht in der Kaiserstraße 34 in Dortmund!

Wenn du dich vernetzen und austauschen möchtest, dann gibt es im Anschluss an den Prozessauftakt die Möglichkeit zum Austausch und natürlich Kaffee, Tee und Kekse zum Aufwärmen im Black Pigeon?

Wenn du mit deiner Gruppe eine Mahnwache an einem der folgenden Prozesstage organisieren willst, dann schreib uns gerne eine Nachricht.

Wir freuen uns über Support.

No Justice No Peace!

»The System is Rotten to the Core« – Ein Jahr nach den tödlichen Schüssen fordert Dortmund weiterhin Gerechtigkeit für Mouhamed Lamine Dramé

Pressemitteilung zur Demonstration am 12.08.2023

„Mouhamed – das war Mord“ skandierten etwa 1500 Menschen auf der Großdemo am 12. August 2023 lautstark trotz Starkregens. Zur Demonstration, die am Samstag in der Dortmunder Innenstadt gegenüber dem Hauptbahnhof startete, waren Menschen und Initiativen aus ganz Deutschland dem Aufruf des Solidaritätskreis Justice4Mouhamed gefolgt, um Mouhamed Lamine Dramé zu gedenken. Mouhamed, der sich im Alter von 14 Jahren auf die Flucht begab, um seine Familie im Senegal zu unterstützen, wurde am 8. August 2023, von der Dortmunder Polizei brutal erschossen.

Der Solidaritätskreis ist sehr glücklich darüber, dass die Demonstration so divers aufgestellt war. Beispielsweise war der sehr kämpferische erste Block von BIPoC (Black Indigenous People of Colour) besetzt. Des weiteren gab es einen leisen Block der Anti-Ableistischen Aktion Ruhr sowie einen symbolischen leeren Block für diejenigen, die fehlen, und in Folge fortgesetzter Gewalt, Diskriminierung und Traumatisierung ihren politischen Ausdruck nicht auf die Straße bringen können. Den Ausrichtenden der Demonstration war es ein Anliegen, dass sich alle Menschen möglichst sicher fühlen. „Uns ist bewusst, dass viele teilnehmende Menschen in ihrem Alltag Unterdrückung erfahren. Sei es bei Kontrollen durch die Polizei, Schikanen durch Ämter und Behörden; auf der Arbeit; in der Schule oder in Form der Diskriminierung durch andere Bürger*innen. Nicht selten entstehen Ängste und Traumata – Daher achtet bitte aufeinander!“ , so ist es im Demokonsens des Solidaritätskreises nachzulesen, der bereits im Vorlauf veröffentlicht wurde.

Umso bestürzter war der Solidaritätskreis über die Versuche der Repression seitens der Stadt Dortmund, welche eine Flyeraktion auf dem Nordmarkt an Mouhameds Todestag gewaltsam unterbrach. „Diesen Vorfall werden wir in naher Zukunft erneut thematisieren. Heute steht jedoch das Gedenken an Mouhamed im Fokus“, so Presseperson Anna Neumann. Auch eine repressive Auflage der Polizei, die eine Zwischenkundgebung vor der Wache Nord untersagt hatte, war nur eine Randnotiz.

Zum Auftakt der Veranstaltung sprach der Solidaritätskreis selbst und verlas das Worte der Familie Dramé, die sich immer noch in tiefer Trauer um ihren Angehörigen befindet und weiterhin Gerechtigkeit fordert. Bei dem friedlichen Gedenkmarsch wurde deutlich, dass sich eine starkes Netzwerk gedenkpolitischer und selbstorganisierter Initiativen geknüpft hat, die in Dortmund und an vielen anderen Orten gleichzeitig unermüdlich und solidarisch, spektrenübergreifend und intersektional für Aufklärung, Gerechtigkeit und ein Ende von rassistischer Polizeigewalt eintreten.
Die Abolitionistin und Wissenschaftlerin Vanessa E. Thompson hat in einem so kämpferischen wie bewegenden Redebeitrag den systematischen Zusammenhang des Systems Polizei, der Staatsgewalt und kolonial-kapitalistischer Gewaltverhältnisse verdichtet, und in Wechselrede die unzähligen Namen getöteter Opfer dieser Gewaltverhältnisse genannt.

Die Schilderungen von tödlicher Polizeigewalt fügen sich zu einem traurigen Bild, was das von den Behörden gern genutzte Narrativ von Einzelfällen als Instrument entlarvt, um dessen systematische Dimension zu verdecken. Eine umfassende Datengrundlage zu Einsätzen der Polizei mit Todesfolge, die dieses Narrativ widerlegen, lieferte die Initiative TOPA (»Tode bei Polizeieinsätzen aufklären«) aus Bochum, die im Jahr 2022 insgesamt 36 tödliche Fälle von Polizeigewalt dokumentierte. Auch Death in Custody, die Todesfälle in Polizeigewalt dokumentieren, beklagen: „Seit unserem letzten Grußwort für diese Demo sind über dreißig Todesfälle dazugekommen. Damit niemand nachhakt, heißt es dann oft, die Betroffenen seien vor ihrer Tötung aggressiv gewesen, in einer psychischen Krise oder unter dem Einfluss irgendwelcher Drogen.“ So wurde auch auf Mouhamed das stereotype rassistische Bild eines aggressiven Angreifers projiziert.

Leider reißt die Gewalt innerhalb von Polizei und Ordnungsbehörden auch im Jahr 2023 nicht ab. „Mouhameds Tod – und der von Tausenden – zeigt uns einmal mehr, dass Rassismus tötet! Er tötet in einem System, das vorgibt auf Menschenrechte und Würde zu bauen, während es auf Ausbeutung, Patriarchat und kolonialem Rassismus beruht. Dieses System greift uns und jede*n an, der als Andere gelesen sind. Weil wir geflüchtet, Schwarz, of colour, queer, Frauen, obdachlos, außerhalb neurologischer Normen, sind.“, skandalisierten No Lager Osnabrück in ihrem Beitrag am Dortmunder U.

Insbesondere in der belebten Innenstadt sorgte der bunte Demonstrationszug für viel Aufmerksamkeit, Passant*innen applaudierten spontan. Zahlreiche Transparente und Bilder, die von den Teilnehmenden hochgehalten wurden, waren zu sehen. „Die große Trauer, Wut und Verzweiflung ist auch nach einem Jahr ungebrochen und wir sind überwältigt von dieser breiten Beteiligung. Die vielen Gesichter und Namen sollen uns allen in Erinnerung bleiben.“ so Anna Neumann von der Pressestelle des Solidaritätskreises.

Auf dem Platz gegenüber der Polizeiwache Nord sprach die Mutter des vor drei Jahren in Amsterdam erschossenen Sammy Baker. Sein Todestag jährt sich am 13. August. Derzeit lässt seine Familie den Tod durch Forensic Architecture, die bereits gegenforensische Analysen in Zusammenarbeit mit der Initiative Oury Jalloh sowie der Initiative 19.Februar Hanau durchführten, untersuchen.

Wir schließen uns den starken Worten der Initiative Ahmed Ahmad bei der Abschlusskundgebung am Hauptbahnhof an: „Wofür wir kämpfen ist, dass dieser institutionelle Rassismus der Polizei- und Justizbehörden endlich gesehen wird. Und wir fordern einen strukturellen Wandel der Behörden! Das Wegsehen, wenn jemandem massives Unrecht widerfährt, muss ein Ende haben – genau das ist aber leider eine tödliche Realität mit Kontinuität. Aber wir wollen und werden uns nicht an diesen Normalzustand gewöhnen. “

An diese Diagnose unserer gesellschaftlichen Verhältnisse schloss die Initiative Copwatch Köln mit einem Redebeitrag an, der auf die „geteilte grausame Geschichte“ und der „Verwobenheit der kolonialen Vergangenheit Europas mit der grausamen Realität der Gegenwart“ schaute und genau aus dieser Erfahrung heraus den Wunsch nach anderen Bedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens entwarf: „Wir tragen unsere Kraft in uns, daher lasst sie uns großherzig miteinander teilen. Bauen wir starke und liebevolle Verbindungen auf, die sich nicht von rassistischen Kräften trennen lassen. Unser Rhythmus ist die Gerechtigkeit – unser Lied ist die Freiheit – Freiheit für alle Schwarzen Menschen auf dieser Welt – Freiheit für Afrika.“

In Zukunft hat der Solidaritätskreis noch einiges vor, denn er unterstützt die Familie Dramé bei der Nebenklage. So müssen sich fünf der zwölf Polizist*innen, die im Einsatz waren, in einem anstehenden Prozess vor Gericht verantworten. Der Schütze ist wegen Totschlags angeklagt, drei weitere Beamt*innen wegen gefährlicher Körperverletzung; der Einsatzleiter wegen Anstiftung zu gefährlicher Körperverletzung. Flexible Flugtickets sind bereits gekauft, damit die Familie dem Prozess beiwohnen können. Sie wollen die Polizist*innen sehen, die ihren geliebten Verwandten erschossen haben, ihnen Fragen stellen und eine Entschuldigung. Mouhameds Familie ist es zudem ein Anliegen, den Ort an dem ihr Sohn und Bruder starb zu sehen, um Abschied nehmen zu können. „Wir kritisieren, dass es für solche Fälle keine humanitären Visa gibt, die eine Einreise für die Angehörigen erleichtern und denken, dass die Politik und die Stadt in diesem Punkt Verantwortung übernehmen müssen. Wir empfinden es als Skandal, dass Angehörige zusätzlich zu diesem schmerzlichen Verlust, Zeit und Kosten für Visa aufbringen müssen“, so Anna Neumann Presseperson des Solidaritätskreises.

Bis zur geforderten Gerechtigkeit ist es ein langer Weg, denn diese geht über die Aufarbeitung von Mouhameds Tod hinaus und erfordert auch eine grundlegende Veränderung des Miteinanders und den Zugang zu grundlegenden, lebensnotwendigen Ressourcen sowie gesellschaftlicher Teilhabe. Laut der Initiative muss ein menschenwürdiges Leben durch eine angemessene Unterkunft und eine Existenzsicherung gewährleistet werden. „Insbesondere minderjährige Geflüchtete, die oftmals schwer traumatisiert sind, bräuchten Zugang zu adäquater sozialer und psychologischer Unterstützung. Auch dafür ist Mouhamed ein trauriges Beispiel“ schlussfolgert Anna Neumann, Presseperson des Solidaritätskreises. „Dafür werden wir uns mit unserer ganzen Kraft einsetzen“.