Was ist »Abolitionismus«?

Buchvorstellung und Gespräch mit Daniel Loick und Vanessa Thompson
Mitschnitt der Veranstaltung vom 18.11.2022 in leicht gekürzter Form. Erschienen zuerst bei Radio Nordpol am 19.11.2022.

Begleittext von Radio Nordpol:

Am 08.08.2022 tötete die Polizei Dortmund den 16-jährigen Mouhamed Lamine Dramé in der Nordstadt. Mouhamed, der aus dem Senegal nach Deutschland geflüchtet war, war in einer psychischen Krise und äußerte Suizidgedanken. Der Tod von Mouhamed Lamine Dramé hat uns alle erschüttert. Denn diese Geschichte ist bei Weitem kein Einzelfall. Seit der Wende sind alleine durch Schusswaffen mindestens 318 Menschen in Polizeieinsätzen getötet worden. Der Großteil der Todesfälle durch Polizeibeamt*innen ist bis heute nicht hinreichend aufgeklärt, geschweige denn aufgearbeitet worden. Wie die Kampagne „Death in Custody“ dokumentiert, bleiben viele Opfer namenlos und unbetrauert. Die meisten Täter*innen bleiben unbestraft.

Gemeinsam mit Vanessa E. Thompson (Queen´s University, Canada) und Daniel Loick (Universtität Amsterdam) möchten wir am Vorabend der bundesweiten Demonstration in Gedenken an Mouhamed und die Tausenden weiteren Opfer tödlicher Polizeigewalt am 19.11.22 darüber sprechen, welche Konzepte von ziviler und emanzipatorischer Sicherheit wir in der Nordstadt einsetzen könnten. Denn die Bewohner*innen der Nordstadt können nicht in die Sicherheit durch Polizei und Staat vertrauen.

Wir nehmen diese Situation zum Anlass, um über Loicks und Thompsons neues Buch „Abolitionismus. Ein Reader“ (erschienen Juli 2022 im Suhrkamp Verlag) zu sprechen:
 »Abolitionismus« bezeichnet die politische und soziale Bewegung in den USA, die die Überwindung staatlicher Gewaltinstitutionen wie Gefängnis und Polizei fordert und alternative Praktiken erprobt. In der Tradition des Kampfes gegen die Versklavung Schwarzer Menschen betonen Abolitionist*innen die rassistische Geschichte staatlicher Gewaltapparate und ihre Komplizenschaft mit Formen kapitalistischer Ausbeutung und patriarchaler Unterdrückung. 

Veranstaltet von Defund the Police Dortmund in Kooperation mit:
Solidaritätskreis Mouhamed justice4mouhamed.org
Radio Nordpol https://radio.nrdpl.org
Antifa Café Dortmund https://antifacafedortmund.noblogs.org
Forum gegen Rassismus Dortmund https://fgrdo.noblogs.org
NoCamDo https://www.nocamdo.org/

Kämpferische Großdemo in Dortmund: 2500 Menschen fordern Gerechtigkeit für Mouhamed Lamine Dramé

Unter dem Motto „Es gibt 1000 Mouhameds. Sie verdienen Gerechtigkeit!“,
gedachten rund 2500 Menschen dem im August von der Dortmunder Polizei
ermordeten Mouhamed Lamine Dramé. Außerdem wurde deutlich gemacht: Es
handelt sich um ein strukturelles Problem, nicht um einen Einzelfall.

Friedlich, aber kraftvoll und lautstark kamen unterschiedliche
Initiativen aus dem ganzen Bundesgebiet zusammen, die sich kritisch mit
dem gewalttätigen Vorgehen der Polizei und den dahinterliegenden
rassistischen und autoritären Strukturen beschäftigen und Aufklärung für
zahlreiche, durch Einsätze verursachte Todesfälle fordern.

Die vom Bündnis Justice4Mouhamed organisierte Demonstration startete an
den Katharinentreppen gegenüber des Dortmunder Hauptbahnhofs mit einem
emotionalen Redebeitrag der Familie Dramé. Die Familie ist traurig und
schockiert. „Unsere Mutter ist seit Mouhameds Tod in einem Zustand der
Untröstbarkeit. Unser Vater ist nach seinem Verschwinden in einem
Schock.“ Dass der Fall Mouhamed die Dortmunder Stadtbevölkerung zutiefst
beschäftigt, wurde durch Redebeiträge der lokalen afrikanischen
Community deutlich. Auch nach drei Monaten trifft die Brutalität der
Polizei, insbesondere der Wache Nord, auf Unverständnis und Wut.

Die durch Hamburger Gitter abgeriegelte Nordwache ist war auch der erste
Stopp des Demonstrationszuges. Das Demobündnis fordert die Schließung
der Nordwache. Bereits seit längerer Zeit steht die Nordwache in der
Kritik für unverhältnismäßige verbale und physische Gewalt. Vor allem
Vorwürfe des Rassismus werden immer wieder aus dem Viertel erhoben.

Die Recherchegruppe Death in Custody betonte hier in ihrem Grußwort, wie
wichtig eine zivilgesellschaftliche Gegendarstellung zu den
polizeilichen Narrativen ist und dass Initativen hartnäckig den
öffentlichen Druck aufrecht erhalten müssen. Durch akribische
Dokumentionsarbeit zu rassistisch motivierten, tödlichen
Polizeieinsätzen trägt das Netzwerk maßgeblich zur Sichtbarkeit dieser
bei. Es wird deutlich: Es braucht Alternativen zur Polizei. Dies betonte
im Anschluss ebenfalls das Forum gegen Polizeigewalt und Repression,
welches keine Reformen, sondern transformative Gegenentwürfe fordert.

Unter lautstarker Begleitung durch Parolen, welche die Polizeipraxis
skandalisierten, ging es durch die Nordstadt Richtung Dortmunder U. Dort
folgte unter anderem eine beeindruckende Rede der Initiative Oury
Jalloh. Diese kämpft seit 17 Jahren für den in einer Gewahrsahmszelle
verbrannten Oury Jalloh. „Wir werden einen langen Atem brauchen, um
Missstände aufzudecken und die Öffentlichkeit zu erreichen. Dabei sehen
wir die Initiative Oury Jalloh als inspirierende Verbündete.“, äußert
Sarah Claßmann, Sprecherin des Solidaritätskreises.
Der kaum beachtete Todesfall eines Obdachlosen vor einem Monat, dessen
Name bis heute nicht bekannt ist, wurde durch die
Bürger*innen-Initiative „Schlafen statt Strafen“ aufgegriffen. Der Mann
starb nach dem Einsatz eines Tasers, die seit 2020 in Dortmund
regelmäßig Anwendung finden. Die Initiative macht deutlich, wie
unprofessionell die Institution Polizei mit Menschen in Krisen- und
Notsituationen umgeht. „Gerade vulnerable Gruppen, die keine Stimme
haben sind besonders heftig Polizeigewalt ausgesetzt. Diese
klassistische Praxis kritisieren wir zutiefst!“, skandalisiert die
Rednerin. Die Ermittlungen gegen die Polizei sind in diesem Fall
vorerst eingestellt.

Für viel Interesse der Innenstadtbesuchenden sorgte der
Demonstrationszug auf dem Westenhellweg. Die zahlreichen Schilder mit
den Gesichtern der Opfer und den Rufen nach Gerechtigkeit zogen die
Aufmerksamkeit von Passant*innen auf sich. Viele drückten ihre
Zustimmung aus und applaudierten.

Bei der Abschlusskundgebung auf dem Friedensplatz sprach die Mutter des
2020 in Amsterdam ermordeten Sammy Baker, mit welcher der
Solidaritäskreis im Austausch steht. Viele Menschen zeigten sich zu
Tränen gerührt. „Wir sind sehr ergriffen von den persönlichen Worten und
bewundern die Stärke und Ausdauer der Familie“, so Sarah Claßmann.

Der Solikreis resümiert: „Wir sind überwältigt von der großen
Beteiligung. Die bundesweite Vernetzung mit anderen Initiativen ist eine
gute Voraussetzung für Aufmerksamkeit unserer Anliegen. Auch in Zukunft
kämpfen wir gemeinsam gegen Polizeigewalt. Unsere Arbeit geht auch nach
der heutigen Demonstration weiter.“ 

Pressemitteilung zu den Berichten des WDR und SPIEGEL am 18.11.2022

 

Mouhamed stirbt ,planmäßig‘: Erschießung ohne Bedrohungslage

Presseartikel1 dokumentieren den aktuellen Ermittlungsstand um die Umstände, die zur Erschießung des 16-jährigen Jugendlichen geführt haben: Demnach ging von Mouhamed zu keinem Zeitpunkt eine Bedrohung aus. Vielmehr macht ein Artikel des Spiegel deutlich, dass es sich um die planmäßige Durchführung eines vierstufigen Einsatzplanes handelte, denn die Dramaturgie des Einsatzes gab die direkte Reihenfolge von Pfefferspray, Tasereinsatz und Erschießung vor. Ein solches planmäßiges Vorgehen kann nur mit Rassismus erklärt werden: Denn die Vorstellung einer Bedrohungslage ist bereits in den Köpfen der Beamt*innen, ehe sie den Hinterhof der Jugendhilfeeinrichtung erreichen.

Dieser Bericht, nur einen Tag vor der Großdemonstration, die in Gedenken an den von der Polizei ermordeten Mouhamed stattfinden soll, untermauert die Forderungen des Demobündnisses Justice4Mouhamed.

Einem weiteren Bericht des WDR2 zufolge, wurde keine Warnung vor dem Einsatz von Pfefferspray und Taser ausgesprochen. Mouhamed saß bis zu diesem Zeitpunkt noch ruhig auf dem Boden, ohne die Beamt*innen zu bedrohen. Zur Eskalation kam es einzig durch das unangemessene Vorgehen der Polizei. Standards, die bei Einsatz von Tasern gelten, wurden übergangen, der ganze Einsatz dauerte nur wenige Minuten. Mouhamed wurde weder adäquat angesprochen, noch gab es einen Warnschuss.

Diese neuen Erkenntnisse bestätigen unsere Forderungen, wie Pressesprecherin Sarah Claßmann betont: „Der Mord an Mouhamed muss lückenlos aufgeklärt und als solcher behandelt werden. Die am Einsatz beteiligten Polizist*innen müssen zur Verantwortung gezogen werden. Es braucht Alternativen zu einer gewaltvollen, hochgerüsteten Polizeipraxis und der Einsatz von Elektroschockern muss gestoppt werden.“

Doch nicht nur einzelne Beamt*innen haben das Leben Mouhameds auf dem Gewissen, sondern sein Tod ist die Konsequenz einer repressiven, rassistischen und diskriminierende Einsatzlogik der Polizei mit hohem Gewaltpotential. Mouhameds Tod zeigt, wie strukturell falsch eine stark militarisierte Polizei in Einsätze geht. 

In der Dortmunder Nordstadt kann dies besonders gut beobachtet werden, denn sie entwickelte sich zum Experimentierfeld verschiedenster Repressionsstrategien: Anlasslose „Schwerpunktkontrollen“, wöchentliche Razzien durch Hundertschaften, Zivilkräfte die außerhalb jeder Rechenschaft regelrecht Jagd auf Menschen machen; eine ‚Blackbox Wache Nord‘ in deren Gewahrsamszellen Menschen misshandelt werden, der Einsatz von Elektro-Tasern und Maschinenpistolen in Einsatzfahrzeugen, die Beamt*innen nach eigener Auslegung zum Einsatz bringen.

Nicht zuletzt zeigen die nun veröffentlichten Einsatzdetails, wie inadäquat eine auf repressives Vorgehen gedrillte Polizei mit Menschen in psychischen Krisen umgeht. Mouhamed hätte Hilfe gebraucht, keine Polizei die sich mit Pfefferspay, Tasern und Maschinenpistolen vor ihm aufbaut. 

„Die nun veröffentlichten Einzelheiten zum Tathergang im Innenhof der Jugendeinrichtung zeichnen das Bild eines desaströsen Polizeieinsatzes – sind jedoch bei etwas weiterer Betrachtung nur Symptome tieferliegender, systemischer Probleme“, so Sarah Claßmann, Pressesprecherin des Bündnisses. Von Mouhamed ging keinerlei Gefahr aus, dies scheint nun sogar die Aktenlage der Staatsanwaltschaft herzugeben. „Eskaliert hat hier einzig und allein die Polizei“, so Claßmann weiter.

Das Demobündnis fordert daher: „Der Fall von Mouhamed ist kein Einzelfall und darf auch nicht als solcher behandelt werden“. Offizielle Statistiken gibt es zwar nicht, aber durch die gute Dokumentationen von Recherchenetzwerken wie „Death in custody“, wird deutlich: People of Colour und Menschen in psychischen Ausnahmesituationen sind häufig Opfer von Polizeigewalt. Deswegen gehen wir morgen unter dem Motto „Es gibt 1000 Mouhameds. Sie verdienen Gerechtigkeit!“ umso entschlossener auf die Straße.

Ein liveübertragenes Gespräch mit der Familie von Mouhamed wird morgen zu Beginn der Demonstration geführt. Tausende Kilometer entfernt vom Todesort ihres Sohnes betrauern und verarbeiten sie seinen Tod und müssen sich darauf verlassen, dass die Umstände seines Todes nicht nur aufgeklärt werden, sondern auch Konsequenzen nach sich ziehen. Dem fühlt sich das Demobündnis seit Beginn der Arbeit verpflichtet und ruft jede*n dazu auf dabei zu unterstützen!

1 https://www.spiegel.de/panorama/justiz/dortmund-so-schildert-ein-augenzeuge-den-toedlichen-polizeieinsatz-last-man-standing-a-663c7d96-1272-45c9-959a-c588002ffe69

2 https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/neue-erkenntnisse-mouhamed-nicht-gewarnt-100.html

Pressemitteilung: Großdemonstration in Gedenken an Mouhamed Lamine Dramé

Das Solidaritätsbündnis Justice4Mouhamed ruft am 19. November zur
Großdemonstration auf, um des von der Polizei erschossenen 16-Jährigen
zu gedenken. An der Demo werden auch Familien von anderen Opfern von
Polizeigewalt sowie Initiativen aus ganz Deutschland teilnehmen.

Zum Hintergrund:
Am 08.08.2022 wurde Mouhamed, der sich in einer Jugendhilfeeinrichtung
in der Dortmunder Nordstadt aufhielt, von der Polizei erschossen. Der
zuvor aus dem Senegal geflohene Jugendliche befand sich in einer
psychischen Krise und seine Betreuungspersonen verständigten aus der
Sorge heraus, dass er sich das Leben nehmen würde, die Polizei.

Insgesamt waren 12 schwer bewaffnete Beamt*innen vor Ort, die Mouhamed
zuerst Pfefferspray ins Gesicht sprühten und kurz darauf Taser und eine
Maschinenpistole einsetzten. Der Jugendliche hielt sich ein Messer an
den Bauch und befand sich zum Zeitpunkt des Einsatzes auf einem
umzäunten Hof. Eine Gefahr für andere Personen bestand damit nicht.
Mittlerweile konnte anhand von Audioaufnahmen rekonstruiert werden, dass
der Einsatz von Taser und Maschinenpistole fast zeitgleich erfolgte.
Dies bedeutet, dass unmittelbar nach Einsatz des Elektroschockers, der
einem Menschen bereits stärkste Schmerzen zuführt und kurzfristig außer
Gefecht setzt, geschossen wurde. Mouhamed verstarb kurz darauf an den
schweren Verletzungen. Ein Bemühen der Polizei, das Leben von Mouhamed
zu schützen, ist nicht erkennbar.
Nachdem seitens der Polizei und des Innenministeriums zunächst an der
Rechtmäßigkeit des Einsatzes festgehalten wurde, werden die
Darstellungen der Polizei, in eine Notwehrlage geraten zu sein, immer
unglaubwürdiger. Auch Innenminister Reul äußerte Zweifel an der Version
der Beamt*innen der Nordwache. Gegen die am Einsatz beteiligten
Polizist*innen laufen derzeit Ermittlungsverfahren und auch der
nordrhein-westfälische Landtag befasst sich in drei Ausschüssen mit dem
Fall von Mouhamed.

Mit der Kampagne „Es gibt 1000 Mouhameds. Sie verdienen Gerechtigkeit!“
fordern wir als Solidaritätsbündnis nicht nur die Aufklärung des Mordes
an Mouhamed, sondern auch eine Aufklärung der zahlreichen weiteren
Polizeieinsätze, bei denen Menschen zu Tode gekommen sind. „Wir
betrachten den Tod von Mouhamed nicht als tragisches Einzelschicksal,
sondern exemplarisch für strukturelle Polizeigewalt“, so Sarah Claßmann,
Aktivistin im Solidaritätsbündnis. Rassistische Strukturen, fehlende
Deeskalationsstrategien im Umgang mit psychisch erkrankten Personen,
Ableismus und Sexismus führen dazu, dass die Polizei vielen Menschen
nicht die versprochene Sicherheit bietet, sondern Polizeieinsätze
gewaltvoll – oder wie in Mouhameds Fall sogar tödlich – verlaufen.
Wir als Solidaritätsbündnis wollen wissen, warum ein verzweifelter
Jugendlicher durch die Polizei mit dieser Brutalität erschossen wurde
und fordern Konsequenzen für die am Einsatz beteiligten Beamt*innen
sowie eine komplette Schließung der Polizeiwache Nord. In Fällen
tödlicher Polizeigewalt muss es unabhängige Beschwerde- und
Ermittlungsstellen geben.
Außerdem unterstützen wir die Familie von Mouhamed bei der Nebenklage
gegen die Beamt*innen und durch Spenden. Wir wollen alle Familien und
Freund*innen, die Angehörige durch Polizeigewalt verloren haben, bei
ihrem Kampf um Gerechtigkeit bestärken.

Die Demonstration startet am 19. November 2022 um 13:30 Uhr an den
Katharinentreppen gegenüber dem Dortmunder Hauptbahnhof und endet am
Friedensplatz in der Innenstadt.

Pressekontakt:
solidaritaetskreismouhamed@riseup.net

Stand der Aufklärung des Mordes an Mouhamed Lamine Dramé durch die Dortmunder Polizei

Wie ist es überhaupt zum tödlichen Polizeieinsatz am 08.08.2022 gekommen?

Der Jugendliche Mouhamed Dramé ist 2019 aus dem Senegal über das Mittelmeer nach Europa geflüchtet, kam über Spanien und Frankreich erst im April diesen Jahres nach Deutschland, zunächst nach Rheinland-Pfalz, in ein Erstaufnahmelager. Dort ist Mouhamed offenbar gefragt worden, wo er hin wolle. Als Fußballfan hat Mouhamed Dortmund angegeben. Er kannte wahrscheinlich niemanden in dieser Stadt. Er wurde dann allein in einen Zug nach Dortmund gesetzt – das ist so üblich in Deutschland. In der katholischen Jugendhilfeeinrichtung in der Holsteiner Straße 21 der Dortmunder Nordstadt war zufällig ein Platz frei. Wenige Tage später wurde er im Innenhof dieser Einrichtung durch die Polizei getötet.
Schon die Behörden in Rheinland-Pfalz hatten wahrgenommen, dass die Flucht Spuren hinterlassen hatte. Es war davon auszugehen, dass Mouhamed schwer traumatisiert war. Die Akte, die sie über Mouhamed angelegt hatten, befand sich zum Zeitpunkt seiner Ermordung noch nicht einmal in Dortmund.
Zwei Tage vor dem tödlichen Polizeieinsatz ist Mouhamed in einer Dortmunder Psychiatrie gewesen in akuter psychischer Notlage. Dort hat man ihn nicht aufgenommen und ihm nicht geholfen – auch das ist so üblich.
So spiegelt die Geschichte Mouhameds, seiner psychischen Notlage, die dem tödlichen Polizeieinsatz vorausging, die Tausender anderer Menschen mit Fluchterfahrungen: Staat, Behörden und Gesundheitssystem versagen.
Am späten Nachmittag des 08. August hat Mouhamed Anzeichen gezeigt, sich selbst zu verletzen und sich das Leben zu nehmen. Die Jugendhilfeeinrichtung tat, was sie mangels Alternativen tun muss: Sie rief die Polizei. Sie informierten über die Umstände und teilten der Polizei mit, welche Sprachen Mouhamed sprach. 
Die Nordwache rückte mit massivem Aufgebot an und umstellte den umzäunten Hof der Einrichtung, in welchem sich Mouhamed alleine befand und sich ein Küchenmesser an den Bauch gehalten haben soll: 12 Polizeibeamt*innen und schwere Ausrüstung. Zu diesem Zeitpunkt war die Lage statisch, Mouhamed kauerte in einer Ecke und bewegte sich nicht. Es gab keinen Grund, nicht auf eine*n Übersetzer*in und eine*n Psycholog*in zu warten. Dennoch entschied sich die Polizei nach kurzer Zeit, die Situation zu eskalieren. Der Einsatz dauerte nur wenige Minuten. Sie sprachen Mouhamed nur in Sprachen an, die er nicht verstand. Sie versuchten nicht, die Lage zu deeskalieren und Mouhamed zu helfen. Stattdessen setzten sie Pfefferspray in so großer Menge ein, dass es Mouhamed über den Kopf lief. Er fasste sich daraufhin wahrscheinlich an den Kopf: Umgehend wurden zwei Schüsse aus einem Taser (Elektroschocker) abgesetzt, von denen einer traf. Vermutlich machte er eine Seitwärtsbewegung in Reaktion auf die schmerzhaften Schüsse. Unmittelbar danach müssen die tödlichen Schüsse aus der Maschinenpistole gefallen sein. Die Maschinenpistole wurde durch den Zaun abgefeuert. Sehr kurze Zeit später blieben alle lebensrettenden Maßnahmen im Klinikum Nord erfolglos: Mouhamed Lamine Dramé stirbt. Es ging von ihm keine Gefahr für andere aus. Deswegen war es Mord.

Wie ist der Stand polizeilicher und staatsantwaltlicher Ermittlungen und politischer Verantwortungsübernahme?

Zunächst haben Polizei, Staatsanwaltschaft und Innenministerium NRW ein Narrativ entworfen, nach welchem der polizeiliche Einsatz rechtmäßig gewesen sei. Sogar eine Anzeige wegen Bedrohung ist gegen Mouhamed ausgestellt worden. 
Seit Mouhameds Tod sind nach und nach selbst bei Staatsanwaltschaft und im Innenministerium Zweifel an der formalen Rechtmäßigkeit des Einsatzes aufgekommen. 
Inzwischen wird immer klarer, dass das Notwehrnarrativ der Dortmunder Polizei in sich zusammenfällt. Einige Elemente dieses Notwehrnarrativs sind inzwischen widerlegt: Nachweislich hatte Mouhamed keine Drogen und keinen Alkohol konsumiert. Er hat sich nicht auf die Einsatzbeamt*innen zubewegt. Es gibt keine Anhaltspunkte, dass eine Bedrohung für andere von Mouhamed ausging. 
Derzeit laufen die Ermittlungen weiter: So sollen die Einsatzbeamt*innen ihre Aussagen untereinander abgesprochen haben, auch mit Polizeipräsident Lange gab es im Nachgang der Tat eine Dienstbesprechung. Wichtig ist die Rekonstruktion einer Timeline des Einsatzes zwischen Eintreffen der Polizei und den tödlichen Schüssen: Sie dokumentiert, dass es faktisch keine Bemühungen der Polizei, keine Handlungen, die dem Schutz des Lebens Mouhameds gegolten hätten, gegeben haben kann. Die tödlichen Schüsse fielen entweder so kurz nach dem Taser-Einsatz, dass Mouhamed keinerlei Chance hatte, darauf zu reagieren, oder eventuell sogar zeitgleich. Inzwischen wird gegen den Einsatzleiter und mehrere Polizist*innen ermittelt, gegen den Todesschützen wegen Totschlags.Zumindest der Einsatz des Pfeffersprays und des ersten Tasers werden höchstwahrscheinlich zu Strafverfahren führen. Ob die Staatsanwaltschaft hier die Folgerung zieht, dass diese Handlungen auch unmittelbar zum Tod Mouhameds geführt haben ist noch unklar.  Ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsergebnis ist für November angekündigt. 
Nebenher beschäftigt sich das Landesparlament NRW in verschiedenen Ausschüssen mit Mouhameds Tod. Der politische Druck wächst, das Innenministerium und leitende Polizeibeamt*innen reagieren mit Beschwichtigungen und (bisher leeren) Reformversprechen.

Update vom 09.11.22: Im Rechtsausschuss des Landtags ist ein Ermittlungsdetail thematisiert worden: Es ist nachgewiesen, dass die Schüsse Taser und Maschinenpistole quasi zeitgleich ausgelöst worden sind – nachdem das Schussgeräusch des Tasers wahrnehmbar wurde, fiel mit einem Abstand von 0,717s der erste Schuss aus der Maschinenpistole. Wir fordern vor diesem Ermittlungsergebnis die Mordanklage.

Welche Konsequenzen folgen daraus?

Verzweiflung und Trauer trifft Mouhameds Familie, die für Aufklärung und Gerechtigkeit kämpft und ein Nebenklageverfahren aufgenommen hat. Wir unterstützen die Familie darin und wünschen uns, dass Mouhameds Name und seine Geschichte in Erinnerung bleiben werden. Verzweiflung und Wut treffen auch die vielen Menschen in der Dortmunder Nordstadt und in Deutschland, die täglich struktureller und rassistischer Gewalt durch die Polizei ausgesetzt sind. Wir fordern, dass Mouhamed nicht zu einem der vielen namenlosen Deaths in Custody wird, die durch Polizei und Staat vergessen gemacht werden, als würden ihre Leben nicht zählen.

Unsere wichtigsten Forderungen sind daher:

Wir fordern die Schließung der Nordwache!

Wir fordern eine lückenlose Aufklärung der Umstände um Mouhameds Tod und Konsequenzen für alle beteiligten Beamt*innen!

Wir fordern eine polizeiunabhängige Aufklärungsinstanz und unabhängige Beschwerdestellen

Demilitarisierung der Polizei: keine Taser, denn die sind auch tödlich, keine Maschinenpistolen! 

Wir fordern Alternativen zur Polizei: fachliche Krisenintervention für Menschen in akuter Notlage und mit multiplen Krisen-, Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen!

Weiterer Tod in Polizeigewahrsam in unserer Stadt – Wir trauen und fordern Konsequenzen

Dortmund, 19.10.

Am 19.10.2022 erreichte uns die Nachricht, dass im Dortmunder Stadtteil Dorstfeld erneut ein Mensch im Rahmen eines Polizeieinsatzes verstorben ist. 

Zunächst einmal möchten wir unsere Trauer über den Tod eines Menschen ausdrücken. Wir sind fassungslos, dass es schon wieder soweit gekommen ist. Wir hoffen, dass dieser Tote nicht namenlos bleiben muss und seine Geschichte nicht vergessen gemacht wird.

Wir können aktuell nicht die genauen Umstände dieses Todes in Polizeigewahrsam einschätzen. Zeug*innenaussagen berichten aber glaubwürdige von einer bekannten, wohnungslosen, männlichen Person, die sich in einer akuten und durchaus aggressiven Krise befunden hat. Daraus entsteht das typische Bild  des politischen Versagens der Polizei: 

Umgang mit Menschen in psychischer Ausnahmesituation

Ein Großteil der Menschen, welche in Polizeieinsätzen ums Leben kommen, befinden sich in psychischen Ausnahmesituationen und/oder leiden an psychischen Erkrankungen. Oft handelt es sich hierbei um Personen, in deren Umgang eine besondere Sensibilität und Kenntnis der Krankheits- oder Gemütslage erfordert. Die Berichte über die Tathergänge, in denen Menschen durch die Hand der Polizei starben, machen deutlich, dass es hier an Kenntnis und Fachkompetenz im Umgang mangelt. Der Umgang mit psychisch erkrankten Menschen gehört zu den alltäglichen Herausforderungen der Polizei. Diese sollte über entsprechende Kompetenzen verfügen, um Herausforderungen, wie beispielsweise aggressives Verhalten und Eigengefährdung, zu begegnen. Hierzu gehört auch das Wissen über verschiedene Erkrankungen sowie die solide Ausbildung in Gesprächsführung und Deeskalations- und Präventionsstrategien und regelmäßiges Training. Auch das Erlernen von sicheren Fixierungsmethoden, die auch in psychiatrischen Kliniken zum Einsatz kommen, sollten zum Repertoire von diensthabenden Polizist*innen gehören, um eine Beruhigung der Situation und die Sicherheit und den Schutz aller Beteiligten zu ermöglichen.

Der Einsatz von Tasern

Nach jetzigem Wissensstand können wir den Zusammenhang des Todes des Opfers zum Einsatz eines Tasers annehmen. Der Einsatz von Elektroschockern, sogenannten Tasern, ist bundesweit kein Standard. Dortmund ist hier ein Experimentierfeld, in welchem der Einsatz dieser Distanzwaffen erprobt wird. Eigentlich besteht die Annahme, dass es sich bei Tasern um eine nicht-tödliche Distanzwaffe handelt. Bereits vor Einführung gab es Proteste gegen den Einsatz von Tasern, da es weil bekannt ist, dass deren Einsätze tödlich verlaufen können, wenn beispielsweise Vorerkrankungen vorliegen. Der heutige Fall  erinnert daran: Der Einsatz von Tasern kann zum Tod eines Menschen führen! Es muss Schluss sein, dass Polizeitaktiken und Waffen an der Gesellschaft im Rahmen unsicherer Feldstudien ausgetestet werden.

Während eine Abkehr von der Benutzung des Tasers vor diesem Hintergrund angebracht wäre, so ist die Verlängerung seines Einsatzes bis 2024 verlängert. Auch in anderen Städten, wie Bochum und Wuppertal, werden die Taser derzeit getestet. Bedingung dafür sei allerdings eine Einschaltung der Bodycams bei Einsatz. Im aktuellen Fall gibt es dazu bis dato keine Hinweise.

Die Betroffenen als marginalisierter Teil der Gesellschaft

Es handelt sich hierbei eigentlich um den offensichtlichsten der Kritikpunkte an tödlicher Polizeigewalt. 

Wenn Menschen durch die Hände der Polizei sterben, handelt es sich nahezu ausschließlich um marginalisierte Gruppen der Gesellschaft. Auch in diesem Fall handelt es sich um eine wohnungslose Person, offensichtlich psychisch beeinträchtigt. Menschen, die Opfer von Polizeigewalt werden, haben oft keinen politischen oder öffentlichen Rückhalt. Eine psychisch kranke wohnungslose Person hat in der Öffentlichkeit und gesellschaftlich kaum Zuwendung und Hilfe zu erwarten. Diese Unterdrückungsstrukturen spiegeln sich im Handeln der Polizei wider, denn sie reproduziert die gesellschaftliche Ablehnung dieser Bevölkerungsgruppen. 

Dieser Fall ist Ausdruck eines erkrankten und diskriminierenden Systems ist und für uns auch deshalb ein Grund, weiterhin die Kritik an der tödlichen Polizeipraktik öffentlich zu machen und zu thematisieren. Denn die Perspektive der Opfer und ihrer Angehörigen wird oft nicht gehört. 

Wir trauern um einen weiteren verstorbenen Menschen. Wir fordern Aufklärung der Umstände seines Todes und Konsequenzen für ein Ende der tödlichen Polizeipraktik.

Mitteilung zum Tod von Kupa Ilungo Medard Mutombo

WIR TRAUERN!

Die Initiative ReachOut veröffentlichte am 06. Oktober 22 eine Pressemitteilung, in welcher sie die Umstände des Todes von Kupa Ilunga Medard Mutombo aus Berlin erläutert. Der 64-jährige psychisch vorerkrankte POC sollte am 14.09. wegen seiner Erkrankung in ärztlicher und polizeilicher Begleitung in eine psychiatrische Klinik gebracht werden. Als er sich zunächst weigerte, drückten ihn die Beamt*innen zu Boden. Kupa wurde daraufhin reanimationspflichtig und musste 20 Minuten wiederbelebt werden!
Er verstarb nun Wochen später an den Folgen im Krankenhaus.

Erneut ist ein psychisch kranker Mensch an den Folgen eines Polizeieinsatzes verstorben.
Erneut handelt es sich um eine Person of Colour.
Erneut handelt es sich für uns hier nicht um einen Einzelfall, sondern um ein Opfer der tödlichen Polizeipraxis!

Die aktuellen Schilderungen beschreiben die bereits bekannten Muster, welche oft mit tödlicher Polizeigewalt einhergehen. So wurde auch hier eine Person in tiefer psychischer Krise der Konfrontation mit insgesamt einem ganzen Einsatzteam ausgesetzt. Da es sich außerdem um eine Person of Colour handelte, ist auch die Wahrscheinlichkeit hoch, dass diese bereits traumatische Begegnungen mit der Polizei erfahren musste. Unabhängig von der offensichtlich schweren psychischen Erkrankung ist die Abwehr von Kupa Mutombo sicher verständlich.
In der Arbeit mit psychiatrisch erkrankten Menschen ist diese Abwehr oder auch „Fremdaggression“ Alltag. In den Kliniken müssen täglich Menschen, welche eigen- oder fremdgefährdendes Verhalten zeigen, leider fixiert werden oder aus der psychischen Krise herausgeführt werden.
Es ist daher unserer Auffassung nach unbegreiflich, dass die Beamtinnen mit der Ankündigung einer fremdaggressiven und traumatisierten Person nicht in der Lage sind, den Einsatz deeskalierend und professionell durchzuführen. Laut Angaben der Polizei ist Kupa Mutombo ohne Zutun der Polizei leblos zusammengesackt. Diese Angaben halten wir für nahezu unhaltbar. Denn sollte es sich wie vorangegangen tatsächlich um eine derart gefährdende Person gehandelt haben, dass 13 Beamtinnen zur Fixierung notwendig waren; wie kann die Person dann Minuten später in einen lebensbedrohlichen Krankheitszustand übergehen?
Nach den vorliegenden Berichten und Fakten gehen wir davon aus, dass es sich -ähnlich wie im Falle des von der Polizei ermordeten Afroamerikaners George Floyd- um eine direkte Folge der Fixierungstaktik der Polizei (Druck durch das Knie auf den Nacken einer Person) handelt.
Die Polizei ist unserer Ansicht nach daher voll umfassend für den Tod der Person verantwortlich, zu dessen eigenem Schutz sie gerufen worden waren!

Die Parallelen zu den Ereignissen in Dortmund vom 08.08.22 sind offensichtlich. Auch Mouhamed sah sich in psychischer Krise einem gesamten Einsatzkommando gegenüber. Auch er wurde Opfer von ungerechtfertigtem Gewalteinsatz. Auch in seinem Fall gibt es keine Verantwortungsübernahme durch die Polizei.

Kupa Ilunga Merdad Mutombos Name ist nur einer von vielen. Seine Geschichte ist beispielhaft für das Schicksal derjenigen, die Diskriminierung und Rassismus durch die Polizei ausgesetzt sind.

Wir trauern um Kupa Ilunga Merdad Mutombo. Wir trauern um die Opfer einer fehlerhaften Institution.
Diese Opfer verdienen Gerechtigkeit! Die Polizei muss Verantwortung für ihre tödlichen Strukturen übernehmen und Konsequenzen ziehen!

#JUSTICE4KUPA
#JUSTICE4ALLMOUHAMEDS